Das Capgras-Syndrom wird auch als Verkennung, Illusion oder im Englischen „delusion" bezeichnet. Patienten mit Capgras-Syndrom gelten als „delusioniert", da sie vehement an dem Glauben festhalten, dass eine oder mehrere ihnen nahestehende Personen durch Doppelgänger ersetzt worden sind. Diese Überzeugung vertreten sie selbst dann, wenn es offensichtliche Beweise des Gegenteils gibt. Da der Irrglaube das einzige Symptom der Capgras-Delusion ist, wird sie zu den monothematischen Illusionen gezählt (siehe Info-Box).
Von Feinden verfolgtIm Gegensatz zu anderen Illusionen gelten monothematische als besonders beständig. Meist treten sie in Verbindung mit Demenz-Krankheiten wie Alzheimer, nach Schlaganfällen, Hirnblutungen oder anderen Verletzungen des Gehirns auf. Häufig werden sie begleitet von psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, die unter anderem mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen verbunden ist. Madame M. fühlte sich beispielsweise permanent von Feinden verfolgt, die angeblich ihre Angehörigen gestohlen hatten und sie selbst vergiften wollten.
Andere Erfahrungsberichte zeugen von einem Fremdheitsgefühl dieser Menschen: Alles um sie herum sehe komisch aus, wie gemalt oder unnatürlich und Gesichter erschienen oft wie Masken oder Wachsmodelle. Offensichtlich tritt das Syndrom meist in Zusammenhang mit dem Sehsinn auf. Sobald die Patienten mit ihren Angehörigen telefonieren, sei ihre Wahrnehmung plötzlich meist normal, erklären Wissenschaftler. Neuere Studien, etwa von Lucia Gallego vom Instituto de Psiquiatria y Salud Mental des Hospital Clinico San Carlos in Madrid aus dem Jahr 2011 belegen jedoch, dass Capgras auch bei Menschen entstehen kann, deren Verwandte weit entfernt wohnen und die sich nur am Telefon begegnen.
Das Spiegelbild der ProsopagnosieZunächst glaubten viele Forscher, das seltene Syndrom begründe auf Prosopagnosie - der generellen Unfähigkeit, Gesichter bewusst zu erkennen. Ursache dieser Störung ist eine Verletzung des Gyrus fusiformis im Schläfenlappen, dem für die Gesichtserkennung zuständigen Areal. „Ist dieses Areal geschädigt, erkennt man unter Umständen nicht einmal sich selbst im Spiegel", sagt der Hirnforscher Vilayanur Ramachandran, Direktor des Center for Brain and Cognition der University of San Diego. Patienten mit Prosopagnosie leugnen beispielsweise, das Gesicht eines engen Freundes schon einmal gesehen zu haben, zeigen aber gleichzeitig eine emotionale Reaktion, die dem widerspricht. Bei Menschen mit dem Capgras-Syndrom verhält es sich jedoch genau umgekehrt: Sie erkennen ihre Nächsten durchaus - zeigen aber keine emotionale Reaktion, wie sich am Hautwiderstand der Menschen messen lässt (siehe Info-Box).
Die britischen Psychologen Andrew Young von der University of York und der inzwischen verstorbene Hadyn Ellis von der Cardiff University schlugen daher in den 1990er Jahren vor, das Capgras-Syndrom als eine Art Spiegelbild der Prosopagnosie zu sehen. Sie folgen einer Theorie, die zwei Pfade der visuellen Verarbeitung im Gehirn beschreibt: Der ventrale Pfad wird für die bewusste Gesichtserkennung gebraucht und ist normalerweise bei Patienten mit Prosopagnosie beschädigt. Er verläuft vom visuellen Cortex zu den Temporallappen. Die dorsale Route zieht vom visuellen Cortex über den inferioren Parietallappen zum limbischen System und zur Amygdala - dort gewinnt das Gesicht seine emotionale Bedeutung.
„Diese Struktur bewertet die Bedeutung dessen, was man sieht: Ist es Beute, ist es ein Fressfeind, ist es ein möglicher Sexualpartner, oder etwas ganz Triviales, dem man keine Beachtung schenken muss", erklärt auch Ramachandran. Dieser dorsale Pfad sei bei Capgras-Patienten gestört, sodass sie zwar noch ein wahrheitsgemäßes Abbild eines Gesichts mit allen angemessenen Bedeutungen bekommen, allerdings fehle ihnen ein wichtiges Set an Informationen, welches eine emotionale Bewertung des Eindrucks ermögliche. Ramachandran erklärt, ein Betroffener sehe deshalb zwar beispielsweise seine Mutter, könne dieses Bild aber nicht mit den üblichen Gefühlen für sie in Verbindung bringen: „Er sagt dann: Weil ich nichts für sie empfinde, kann das nicht meine Mutter sein, sondern eine merkwürdige Frau, die so tut, als wäre sie meine Mutter."
Menschen ohne SeeleCarol Berman, Psychiaterin am New York University Medical Center, erklärt, dass Patienten durchaus erkennen, dass ihnen nahestehende Personen noch genauso handeln und aussehen, wie sie es gewohnt sind, es sei aber, als ob die Menschen ihre Seele verloren hätten. Obschon dieser Illusion häufig eine Gehirnverletzung zugrunde liegt, wird noch diskutiert, ob auch andere Ursachen eine Rolle spielen könnten. So betont etwa Michael Lewis, der mit Hadyn Ellis am Capgras-Syndrom forschte: „Es handelt sich um einen Fehler der Informationsübertragung von einem Ort im Gehirn zu einem anderen. Der Grund dafür kann eine Gehirnverletzung sein, aber genauso könnte die Verteilung der Neurotransmitter für den gehemmten Informationsfluss verantwortlich sein - zum Beispiel aufgrund eines chemischen Ungleichgewichts."
Doch auch psychische Ursachen werden noch immer diskutiert. Denn Betroffene mit Capgras-Syndrom erklären nicht willkürlich jeden zum Doppelgänger, sondern meist Personen, mit denen sie emotional stark positiv oder negativ verbunden sind. Daher vermuten Experten wie Berman, dass bereits ein gestörtes Verhältnis zwischen Patient und der vertrauten Person vorausgegangen sein könnte. Die Erklärung zum Doppelgänger ermögliche den Patienten, Abstand zu der Beziehung zu nehmen und das Problem zu lösen, indem geleugnet wird, dass es sich um die echte Person handle. Auch psychiatrische Erkrankungen könnten ein Auslöser sein. So wird derzeit diskutiert, ob Madam M., die Capgras damals untersuchte, nicht eigentlich an einer weiterreichenden psychiatrischen Störung gelitten habe.
Wie genau das Capgras-Syndrom entsteht, muss noch weiter erforscht werden. Forscher wie Haydn Ellis sehen darin letztlich jedoch nichts anderes als eine Rationalisierungsstrategie. Aus der richtigen Beurteilung der visuellen Information - „Das ist meine Mutter" - und der mangelnden emotionalen Bestätigung - „Es fühlt sich nicht an, als wäre es meine Mutter" - entsteht ein Widerspruch, den das Gehirn auszugleichen und logisch darzustellen versucht. Man könnte das Capgras-Syndrom darum auch als Schutzmechanismus des Gehirns deuten, das versucht, die Differenz von Gedächtnis und Erleben wieder in Einklang zu bringen.