Getestet wird die Entwicklung der kognitiven Fähigkeit mit einer Reihe von Experimenten. Als Klassiker gilt die so genannte „False-belief-Aufgabe", die bereits 1983 von den Psychologen Heinz Wimmer und Josef Perner entwickelt wurde. 63 Kinder sahen damals, wie eine Person beispielsweise ein Buch in einen gelben Koffer legte. Dann beobachteten sie, wie eine andere Person das Buch in der Abwesenheit der ersten aus dem gelben Koffer nahm und in einen roten Koffer legte. Schließlich wurden die Kinder gefragt, in welchem der Koffer die erste Person nach dem Buch suchen würde. 86 Prozent der Sechs- bis Neunjährigen antworteten richtig, ebenso über die Hälfte der Vier- bis Sechsjährigen - aber kein Kind, das jünger war. Im Alter von vier bis fünf Jahren können Kinder zwischen Glauben und Realität unterscheiden, sie verstehen also, dass es Überzeugungen geben kann, die nicht der Realität entsprechen. Die Meinungen und Studienergebnisse über die Altersgrenze der ToM gehen allerdings stark auseinander - was Sodian zufolge auch daran liegen könnte, dass jüngere Kinder die Aufgaben zum Teil schlicht noch nicht verstehen. „In einfachen Aufgaben mit wenig Ablenkungsmöglichkeiten und geringen Anforderungen an das Sprachverständnis können auch dreijährige Kinder unter Umständen schon richtige Antworten in den 'False-belief-Aufgaben' geben", sagt sie. Jüngeren Studien zufolge sollen bereits Zweijährige fähig sein, anderen eine falsche Überzeugung zuzuschreiben - während andere Experimente zu dem Ergebnis kamen, dass Dreijährige zwar schon auf die subjektive Verfassung eines anderen Bezug nehmen können, jedoch nicht begreifen, dass deren subjektive Überzeugungen falsch sein können. Wie aber testet man die Gedanken von Kleinkindern, die sich noch nicht oder kaum in Worten äußern können? Hier wenden Forscher einen Trick an: Sie messen die Blickbewegungen des Kindes, während dieses gemütlich auf dem Schoß seiner Mutter sitzt. Wo der Blick ist, dort ist auch die Aufmerksamkeit. Die Kleinen sehen beispielsweise ein Spielzeugauto vor einem Fenster von links nach rechts fahren. Hinter dem Fenster steht eine Person, die das Geschehen beobachtet. Während die Person sich abwendet und ans klingelnde Telefon geht, sieht das Baby, wie das Auto wieder von rechts nach links zurückfährt. Kommt die Person nun zurück und will nach dem Auto greifen, blicken viele Kinder sofort - wohin? Nach rechts. Dort also, wo die Person das Auto erwartet.
„Schon im zweiten Lebensjahr findet man erstaunlich präzise Handlungserwartungen von Kleinkindern", sagt Beate Sodian. Allerdings könne man nicht feststellen, ob ein Kind, welches erwartet, dass eine Person am Ort X nach einem Objekt sucht, tatsächlich versteht, dass die Person glaubt, das Objekt befinde sich dort. Ebenso sei denkbar, dass die Kinder eine allgemeine Verhaltensregel anwenden wie zum Beispiel: „Menschen suchen meistens dort, wo sie etwas zuletzt gesehen haben".
Hirnentwicklung im KleinkindalterDie Tatsache, dass die Entwicklung der Theory of Mind bei Kindern in das Kleinkind-Alter fällt, hat auch mit der Hirnentwicklung zu tun. Die Fähigkeit, Überzeugungen anderer einzuschätzen, ist eine Funktion, die sich aus dem Zusammenspiel verschiedener kognitiver Fähigkeiten ergibt - wie dem Gedächtnis, der Aufmerksamkeit, Sprache, Gesichts- und Blickerkennung sowie der Fähigkeit, Kausalzusammenhänge zu begreifen. Eine wichtige Grundlage für die Theory of Mind ist auch die Sprachentwicklung. Schon Kinder mit zwei Jahren benutzen Worte, die Emotionen beschreiben - allerdings meist ihre eigenen. Mit etwa drei Jahren fangen Kinder dann an, auch kognitive Ausdrücke wie „Ich denke", zu verwenden. Die Fähigkeit, eigene Gedanken, Wünsche und Absichten zu haben, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich Verständnis für Überzeugungen anderer herausbilden kann (siehe Info-Kasten). „Forschung mit Kindern ist unterhaltsam und spannend", sagt Beate Sodian. Es ist eine Herausforderung für Wissenschaftler, Aufgaben so zu stellen, dass sie zum einen von den Kindern verstanden werden können und gleichzeitig die Fähigkeiten abbilden, die tatsächlich untersucht werden sollen. Die Erforschung der Entwicklung der Theory of Mind erfordert also selbst eine gute Theory of Mind, eine Menge Geduld und Einfühlungsvermögen.