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Jung, vorbestraft, sucht Job

Ein Text über Resozialisierung

Sven, blondes leicht gewelltes Haar, kein Bart, schmächtige Statur, könnte ein einfacher Student sein. Unscheinbar, harmlos. Doch das Führungszeugnis, das er auf seinem Wohnzimmertisch ausbreitet, erzählt von einer anderen Geschichte. Urkundenfälschung, Diebstahl, gefährliche Körperverletzung, Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, schwerer Raub und unerlaubter Waffenbesitz sind nur ein Teil der Vergehen, die das Bundesamt für Justiz auf drei Seiten mintgrünem Papier festhält.

Svens Wohnung ist etwas Besonderes für ihn. Auch wenn man ihm das nicht gleich anmerkt, als er durch die Räume führt: „Jo, hier wohne ich halt“, sagt der 24-Jährige und versucht, lässig zu wirken. Seit Anfang des Jahres lebt Sven in der hell eingerichteten Altbauwohnung in einer deutschen Großstadt: hier die Küche, da das Schlafzimmer, dort das Wohnzimmer. In der Ecke steht ein Terrarium für Königspython Helmut. Doch ein gewisser Stolz ist kaum zu überhören. „Und alles, was hier drinsteht, habe ich mir selbst erarbeitet“, sagt er und grinst verlegen.


Sven war früher ein „Drehtürgefangener“

Auf seine kriminelle Vergangenheit ist Sven nicht stolz. Ganz im Gegensatz zu der Urkunde, die eingerahmt an der Wand hängt: den Brief zum Fachlogistikmeister. Im Februar 2022 hat er seine Prüfung abgelegt. Den Großteil seiner Ausbildung hat Sven nicht in einem normalen Betrieb gemacht – sondern hinter Gittern. Nur drei der vergangenen sechs Jahre hat Sven in Freiheit verbracht. „Drehtürgefangener“ heißt das im Jargon, insgesamt dreimal kam er ins Gefängnis. Jetzt geht er einen Weg, der vielen ehemaligen Straffälligen Probleme bereitet: den Weg zurück in ein normales Leben.

Im März 2022 waren laut Statistischem Bundesamt 2760 Menschen im Jugendstrafvollzug in Deutschland inhaftiert – die niedrigste Zahl seit 2010. Und doch geraten einige Jugendliche noch immer in eine Abwärtsspirale, die sie schlussendlich hinter Gitter führt. Wie ist das, wenn man als junger Mensch ins Gefängnis geht und sich danach ein neues Leben aufbauen muss? Mit welchen Problemen haben ehemalige Häftlinge zu kämpfen?

Svens Geschichte beginnt in einer Kleinstadt, irgendwo im Westen Deutschlands. Als er sechs Jahre alt war, verschwand sein Vater spurlos. Sven fing mit 14 an zu kiffen, die Schule war für ihn schnell nur noch ein „Ort, um Freunde zu treffen“. Er wollte irgendwann einmal Polizist werden, erinnert er sich, wollte sogar ein Schülerpraktikum auf dem örtlichen Polizeirevier machen. Doch er entschied sich für die andere Seite.

Er nahm immer mehr Drogen. Sven trank, kiffte, zog Speed, kokste, nahm Ecstasy. „Die Drogen haben mich gleichgültig werden lassen“, sagt Sven heute, „ich habe nur noch in den Tag gelebt.“ Mit 15 fing Sven an zu dealen, prügelte sich mit Netto-Kassierern, wurde mit einem Totschläger im Rucksack erwischt. Seine Mutter war irgendwann überfordert und schickte ihn mit 16 Jahren ins Heim. Doch hier blieb er nicht lange, wechselte lieber zwischen Sofas von Freunden und Einrichtungen für Wohnungslose und Suchtkranke.


„Etwa die Hälfte der Jugendkriminalität hängt mit Sucht zusammen“, sagt Forscher Wolfgang Stelly

Sven spricht schnell, als er seine Lebensgeschichte aufrollt. Die Worte sprudeln aus ihm hervor, während seine Tonlage ruhig bleibt, fast schon etwas gelangweilt. Manchmal verliert Sven mitten im Satz den Faden, hält kurz inne und fragt: „Sorry, wo war ich noch einmal stehen geblieben?“ Das sei eine Folge seines Drogenkonsums, durch seine ADHS-Symptome noch verstärkt.

„Etwa die Hälfte der Jugendkriminalität hängt mit Sucht zusammen“, sagt Wolfgang Stelly vom kriminologischen Institut der Uni Tübingen. Er hat zu Jugendkriminalität und Resozialisierung geforscht und arbeitet im kriminologischen Dienst der Justizvollzugsanstalt Adelsheim. Auch die Familiensituation könne sich stark auf das Verhalten der Jugendlichen auswirken. „Gerade instabile und sozial schwächere Familien sind häufiger betroffen“, sagt Stelly.

Mit 17 wurde Sven zum ersten Mal zu 13 Monaten Haft verurteilt, ohne Bewährung. „Ich hatte keinen Plan, wo ich im Leben hinwill“, erinnert sich Sven. Zwar holte er im Knast den Hauptschulabschluss nach, doch nur „damit sie mich in Ruhe ließen“, sagt er. Wenn man aus der Haft kommt, gebe es zwei Optionen, sagt Sven: „Entweder lässt man die ganze Scheiße sein und hat nichts mehr damit zu tun – oder man ist viel schlimmer als vorher.“ So wie Sven. „Man redet sich dort gegenseitig heiß und verabredet sich dann draußen“, erklärt er. „Das ist wie ein Bootcamp für Kriminelle.“

„Knapp 80 Prozent der jugendlichen Inhaftierten werden erneut straffällig“, sagt Kriminologe Stelly. „Fast jeder zweite wird innerhalb von drei Jahren erneut inhaftiert.“ Sven begann zwar Kurse an der Abendrealschule, blieb jedoch nicht lange dabei. „Schon bevor ich im Knast war, hab’ ich mehr verdient als meine Lehrer“, sagt Sven, „warum sollte ich mir dann den Stress geben?“ So seine damalige Logik. Tatsächlich sei für viele junge Haftentlassene das Leben mit Straftaten attraktiver, so Stelly. Oft fänden sie nur schlecht bezahlte Jobs bei Zeitarbeitsfirmen, „da sind Drogenhandel und Raubüberfälle deutlich lukrativer.“


Papierkram und Schulden erschweren die Resozialisierung

Ein warmer Sommertag in der Großstadt. Auf den Liegestühlen einer Bar am Fluss sonnen sich ein paar Rentner und schlürfen Cocktails. Sven guckt sich um, bittet darum, sich etwas weiter wegzusetzen. „Meine Geschichte müssen hier nicht alle mitkriegen.“ Sven ist hier mit Katalin Wimhoff verabredet.

Eigentlich ist sie Finanzberaterin, doch in ihrer Freizeit hilft sie jungen Ex-Häftlingen, einen Job zu finden. Sie arbeitet als Mentorin im Rahmen des Programms „Arbeitsmarktintegration für jugendliche Strafentlassene“ (ArJuS), das vom hessischen Justizministerium finanziert wird. Sie betreut Sven seit mehr als drei Jahren. Noch immer treffen sie sich regelmäßig und reden über Svens aktuelle Lage und seine Entwicklung. Ihr Verhältnis ist fast freundschaftlich, zur Begrüßung umarmen sie sich.

Wimhoff weiß um die Schwierigkeiten der „Zeit danach“. „Da ist ein Haufen Papierkram, der wartet“, sagt sie. Da wäre die Krankenversicherung, aus der sich viele irgendwann einmal abgemeldet hätten, Arbeitslosengeld oder Kindergeld müsse oft von den Noch-Jugendlichen beantragt werden. „Viele neigen dazu, irgendwann einmal die Post nicht mehr aufzumachen“, sagt sie, „und laufen vor ihren Schulden weg.“

Schon lange kämpft Sven mit Schulden. Zu Höchstzeiten waren es mehr als 20 000 Euro. Ein paar Tausend Euro muss er an das Gericht zurückzahlen, weil er sich das Geld nachweislich illegal beschafft hat. Sogenannter Wertersatz. Auch ein Telekommunikationsunternehmen gehört zu Svens Gläubigern. Grund ist eine von seinen alten Betrugsmaschen. Er schloss teure Mobilfunkverträge mit Handy auf die Namen von anderen Menschen ab. Sven zahlte nur Anschlussgebühr, den symbolischen Euro für das teure Smartphone, das er einkassierte – die Abgezockten blieben auf den teuren Verträgen sitzen.

In dieser Zeit träumte Sven vom eigenen Drogenbusiness. „Ich war richtig in meinem Pablo-Escobar-Film“, sagt er. Die Abendrealschule, die er nach der Haftentlassung besuchte, brach er ab. Seine Umsätze stiegen, genau wie sein Drogenkonsum. Die Folge: zunehmender Kontrollverlust. Sven brachte Rechnungen durcheinander, verlor den Überblick, rastete immer wieder aus.

Svens Umfeld fiel Schritt für Schritt in sich zusammen. Langsam wurden ihm die Konsequenzen seines Handelns klar. Neben abhängigen Freunden, die er indirekt mit Stoff versorgte, litt auch seine Familie: „Meine Schwester hat sich nicht mehr nach Hause getraut, weil seltsame Gestalten vor unserem Haus rumgelungert haben.“


Jugendhaft ist kostengünstiger für den Staat, aber nicht unbedingt sinnvoll

Von einem Tag auf den anderen – nach einem Jahr Berufskriminalität – brach der damals 19-Jährige alle Kontakte mit seinem kriminellen Netzwerk schlagartig ab und zog zu seiner Mutter. Zunächst schien alles gut zu gehen – doch plötzlich stand die Polizei vor seiner Tür. Eine Person, die er ausgeraubt und bedroht hatte, hatte ihn angezeigt. Die Polizei nahm Sven fest und belangte ihn schließlich noch wegen weiterer Vergehen. Das Urteil: Drei Jahre Haft, das dritte Jahr wurde zur Suchttherapie ausgesetzt.

Für die meisten Jugendlichen sei Knast eine ganz schlechte Lösung, sagt Wolfgang Stelly. Gerade für den Großteil der bereits Inhaftierten: Widerholungstäter mittelschwerer Straftaten. „Deutlich sinnvoller wären kleinere, dezentrale Wohngruppen.“ Viele Richter würden Haftstrafen bei Jugendlichen nur deshalb verhängen, weil ihnen nichts besseres einfiele oder mehr den Strafgedanken im Blick hätten als die Resozialisierung. Zudem scheitere es oft am Geld, Jugendstrafanstalten seien deutlich günstiger zu betreiben als kleinere Einrichtungen.

Während Svens zweiter Haftstrafe hingegen schaltete etwas in seinem Kopf um: „Dieses Mal wollte ich die Chance nutzen.“ Als Gefangener begann er eine Ausbildung in der Logistikabteilung, schnell übernahm er eine verantwortungsvolle Position als Teamleiter. Und es machte ihm Spaß. Zwei Jahre lang lernte er täglich mehrere Stunden. „Ich hatte plötzlich einen Traum“, sagt er. Zum ersten Mal habe er eine Alternative zur Berufskriminalität gesehen. Kurz vor seiner Entlassung wurde er schließlich Klassenbester in seinem Ausbildungslehrgang und machte die Abschlussprüfung als Fachkraft für Lagerlogistik. Doch eine Hürde musste er noch nehmen: Das Jahr in der Suchttherapie.


Sven wird rückfällig und taucht unter, als er wieder ins Gefängnis soll

Es lief gut, Sven lernte fleißig für seine Meisterprüfung – bis er erwischt wurde, wie er Spice rauchte, ein sogenanntes Legal High. Die Konsequenz: Der Rauswurf aus der Suchteinrichtung. Eine Woche hatte er Zeit, um sich der Polizei zu stellen und seine restliche Haftstrafe anzutreten.

Doch Sven sah das nicht ein. „Ich war zwei Jahre im Knast, hab eine Ausbildung gemacht und war vier Monate in Therapie. Ich wollte nicht schon wieder zurück.“ Sven haut ab. Drei Monate ist er auf der Flucht, verprasst das wenige angesparte Geld, besucht Freunde. Schließlich spürt ihn das SEK auf und holt ihn unsanft aus der Wohnung einer Freundin, bei der er untergekommen war.

Vielleicht habe ihm genau diese Zeit Kraft gegeben, um sein letztes Haftjahr zu überstehen, sagt Sven. Denn straffällig wurde er bis heute nicht mehr. Seine Ausbildung führte er in weiten Teilen in seinem letzten Haftjahr fort, um schließlich im Februar 2022 seine Meisterprüfung abzulegen, fünf Monate nach seiner Entlassung. „Als ich bestanden hatte, habe ich vor Glück geheult“, sagt Sven. Doch die Meisterprüfung ist erst der Anfang.

„Vor allem ein fester Wohnsitz ist wichtig, um eine gewisse Grundsicherheit in den neuen Alltag zu bringen“, sagt Katalin Wimhoff. Doch die Wohnungssuche aus dem Gefängnis heraus sei auf dem ohnehin umkämpften Wohnungsmarkt in Großstädten nahezu unmöglich. „Wenn man Glück hat, kriegt man in den Monaten vor der Entlassung ein paar Mal Freigang“, sagt Sven. Dann dürfe man kurz raus, könne sich in ein Internetcafé setzen und ein paar Wohnungen anschreiben. „Aber was soll ich denen sagen? Dass ich vielleicht mal in einem Monat zu ‘ner Besichtigung kommen kann und in der Zeit nicht erreichbar bin?“


Noch seltener als eine Wohnung finden Ex-Häftlinge einen Job

Nach langem Suchen fand Sven Anfang dieses Jahres seine aktuelle Wohnung. Das habe nur geklappt, weil der Vermieter keinerlei Dokumente von ihm sehen wollte.

Noch herausfordernder ist die Jobsuche. „Das Stigma ‚Knacki‘ haftet gerade jungen Menschen lange an“, sagt Wolfgang Stelly. „Da geht es nicht nur ums Führungszeugnis, sondern um die große Lücke in ihrer Biografie, die man nur schwer füllen kann.“ Bei jeder Bewerbung stelle sich die Frage: „Wie gehe ich mit meiner Vergangenheit um?“ Im günstigsten Fall schlage einem Skepsis entgegen, im schlimmsten Fall sei das Gespräch vorbei.

Sven will erst mit offenen Karten spielen, was nicht funktioniert. Die Absagen empfindet Sven teilweise als scheinheilig. „Die Arbeitgeber geben sich offen; das wäre ja nicht so schlimm und so weiter. Doch am nächsten Tag sagen sie dann mit einer Begründung ab, in der sie sich selbst widersprechen.“

Schließlich will ihn ein Logistikunternehmen einstellen. Dieses Mal erwähnt Sven seine Vergangenheit erst nach der Zusage. „Es war mein Traumjob“, erzählt er, die Begeisterung merkt man ihm an. Es wartet eine Aufgabe als Teamleiter, also eine echte Führungsposition. Der Haken: Die Arbeit findet in einem Hochsicherheitsbereich statt. Seine Einstellung wird mehrere Wochen geprüft. Mit Mentorin Wimhoff begründet er in mehreren Schreiben, warum seine früheren Straftaten für die Position unbedenklich seien. Und kann die Stelle antreten. Doch nach sieben Monaten kommt die Rückmeldung: Sven muss die Abteilung wechseln und wird versetzt. Ein Rückschlag.

Trotzdem will Sven weitermachen, „etwas erreichen im Leben“. Parallel zur Arbeit beginnt er nun ein Studium im Bereich Wirtschaftsingenieurwesen. Und mittlerweile gibt er auch etwas zurück: Im Rahmen des Arbeitsmarktintegrationsprogramms spricht er regelmäßig mit jungen Menschen im Knast, um ihnen zu zeigen, dass auch sie es aus der Abwärtsspirale schaffen können.

„Es geht immer weiter voran“, sagt Wimhoff lächelnd. Auch das Finanzielle kriege man „irgendwie geregelt“. Gut die Hälfte der Schulden kann Sven über den sogenannten Resozialisierungsfonds abstottern, eine Stiftung, die überschuldeten Straffälligen hilft. Der Fonds verhandelt mit den Gläubigern und zahlt eine vereinbarte Summe direkt. Anschließend haben Ex-Häftlinge wie Sven mehrere Jahre Zeit, um die Schulden zurückzuzahlen.

Sven hat heute wieder einen Traum: „Irgendwann wäre ich gerne selbständig.“ Er will einen eigenen Betrieb leiten, Menschen aus seinem Resozialisierungsprogramm einstellen und ihnen eine zweite Chance geben. Ob er heute manchmal Gefahr laufe, wieder straffällig zu werden? „Nein“, sagt er und lacht: „Sogar bei jeder roten Ampel überlege ich zweimal.“

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