Leon Igel

Zürich/Mannheim/Fulda

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Arbeiterkinder an der Uni: Immer zwischen den Stühlen

Es gibt Momente, auf die darf man stolz sein: Als ich mein Bachelorzeugnis abholte, konnte ich es kaum glauben: „Mit Auszeichnung" stand auf dem dicken Papier mit Siegel, für das ich so lange gearbeitet hatte. Ich hätte niemals gedacht, dass ich an der Uni so erfolgreich sein würde. Das hat nichts mit Bescheidenheit zu tun, sondern liegt schlicht an dem Bewusstsein über meine Herkunft. Ich bin Arbeiterkind. Meine Eltern haben nicht studiert, sondern die Hauptschule besucht. Mein Vater arbeitete als Maschinist, meine Mutter als Verkäuferin. Nach Zahlen einer aktuellen Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes kommen nur rund ein Drittel aller Studierenden an deutschen Hochschulen aus nichtakademischen Familien. Nicht einmal jeder zehnte Studierende kommt aus einem Haushalt, in dem die Eltern die Schule mit einem Hauptschulabschluss verlassen haben. In Deutschland ist Bildung also immer noch eine Frage der sozialen Herkunft.

Wieso ist das so? Die harten Fakten der Ungleichheit im System sind bekannt: Das deutsche Schulsystem teilt Kinder früh in die verschiedenen Schulformen ein, oft fehlt es an Nachhilfe, oder Finanzierungsprobleme machen einer weiterführenden Ausbildung einen Strich durch die Rechnung. Viel seltener aber werden die weichen Faktoren betrachtet, die zu beeinflussen so schwierig sind und die uns Arbeiterkinder oft daran hindern, am Bildungstraum teilzuhaben. Insbesondere eines wird unterschätzt: die eigene Furcht vor dem Unbekannten. Eine akademische Bildung ist auch eine Frage des Milieus. Wer als Erster in der Familie die Uni besucht, verlässt nicht nur das Zuhause in die Studenten-WG in einer anderen Stadt, sondern wechselt - so antiquiert das klingen mag - die Schicht. Dieser Wechsel geschieht aber nicht einmalig, sondern mit jedem Wochenendbesuch zu Hause. Das ist anstrengend. Mit der Zeit lernt man, sich an die unterschiedlichen Rollen anzupassen. Was in Kindheit und Jugend Achtung brachte, ist im akademischen Milieu nichts mehr wert, und für das, wofür einen Kommilitonen und Professoren schätzen, erntet man zu Hause Unverständnis. Meine Familie ist natürlich stolz auf das, was ich erreicht habe. Meine Eltern stehen vollkommen hinter mir und nehmen an meinem Alltag teil, wie bei jeder anderen gut funktionierenden Familie auch. Wir telefonieren sonntags, bei Besuchen zu Hause sprechen wir darüber, was wir in der vergangenen Zeit erlebt haben, und vor Klausuren senden sie mir eine Whatsapp-Nachricht mit Kleeblatt-Emoticon zum Anfeuern. Wir sprechen darüber, wie das alles funktioniert an der Uni. Aber ein Gefühl von Fremdheit bleibt: Ich achte genau darauf, welche Worte ich wähle, und oft gelingt es mir nicht, die richtigen zu finden, um diese ferne Welt verständlich zu machen. Unsere Erfahrungswerte sind verschieden: Ich habe keine Ahnung von körperlicher Arbeit, meine Eltern dafür weniger von Kopfarbeit. Wir blicken unterschiedlich auf Dinge, ich von weit oben, sie von nah dran. Beides ist gut und wichtig. Aber den Eltern nicht genau erklären zu können, was einen umtreibt, ist ein eigenartiges Gefühl.

Ein Beispiel dafür ist diese Anekdote: Besuch bei den Eltern in den Semesterferien. Ich schalte durch die Fernsehkanäle, bleibe bei der Aufnahme einer Medea-Inszenierung hängen, und mein Germanisten-Hirn fängt an zu qualmen. Auf der Mattscheibe ist es düster, das Deutsch ist geschwollen. Für meine Eltern auf dem Sofa neben mir ist das die Hölle, denn das ist schon was für Feinschmecker. Ich solle den Mist wegmachen, raunzt es - und ich explodiere. Das ist doch kein Mist, sage ich, und nebenbei: Es ist mein Leben! Das war natürlich ein bisschen unfair, aber so sind Gefühle. Ich hätte mit meinen Eltern darüber sprechen sollen, was an uralten Texten so spannend ist und warum es sich lohnt, darüber nachzudenken. Aber einander verstehen heißt, sich einander erklären. Das ist anstrengend, und man hat nicht immer Lust darauf.

Aber nicht alles an diesem Untereinander-anders-Sein ist schlecht. Wenn meine Eltern etwa nicht wissen, wie eine Uni von innen aussieht oder wie der Arbeitsmarkt für Geisteswissenschaftler funktioniert, dann ist das auch bereichernd. Ich erzähle oft von Problemen, die mir begegnen, und suche bei ihnen Rat. Meine Eltern schauen darauf dann aus ihrem Blickwinkel. Vor meinem ersten Praktikumstag bei einer großen Zeitung habe ich mir vor Aufregung fast ins Hemd gemacht. Meine Mutter ließ das kalt, diese Zeitung hat sie noch nie gelesen, mit ihrem guten Ruf verbindet sie nichts. Ich saß also nervös am Küchentisch, und meine Mutter forderte mich auf, nicht zu jammern, denn schließlich mache diese Zeitung ja nichts anderes als unsere Lokalzeitung. Zuerst war ich entsetzt, doch dann verstand ich: Sie hat recht. Dieser etwas andere Blick meiner Eltern erdet mich und bringt mich dazu, manche Marotten vielleicht wieder abzulegen (Fachwörter in alltäglicher Kommunikation zum Beispiel). Auch das müsste ich ihnen einmal selbst sagen.

An der Uni ist es manchmal auch schwierig. Die Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, heißen dort „einfache Menschen“. Manche an der Uni sprechen über sie wie Ethnologen über ein indigenes Volk. Das macht mich wütend. Über unsere eigene Herkunft sprechen wir aber eigentlich nicht, sie soll ja nicht über unsere Identität entscheiden. Manchmal taucht sie aber auf, wenn Kommilitonen etwa von Kontakten ihrer Eltern für ein Praktikum erzählen. Selbstverständlich freue ich mich für sie, aber es stimmt mich auch nachdenklich: Hätte ich die Stelle auch so einfach bekommen wie sie? Doch diese Gewissheit, dass man allein dasteht und in der Karriereplanung nicht auf Ressourcen der Familie zurückgreifen kann, treibt an. Ich glaube, Arbeiterkinder sind die ehrgeizigeren Studenten. Wir müssen uns auf uns selbst verlassen und haben nur mit überdurchschnittlichem Fleiß und guten Leistungen Aussichten auf Erfolg. Kontakte müssen wir uns selbst erarbeiten und wie das funktioniert erst lernen, denn Networking hat bei uns in der Familie noch niemand gemacht.

Diese notwendige Selbständigkeit bedingt aber gleichzeitig, dass man sich unglaublich klein und den Akademikerkindern unterlegen fühlt. Ohnehin hat man das Gefühl des Kleinseins lange trainiert. Wo ich herkomme, wurden die Menschen früher die „kleinen Leute“ genannt. Die eigenen Rollenmodelle sind dort Handwerksmeister oder Angestellte. Professoren, Schauspieler oder Politiker sind hingegen unerreichbare Persönlichkeiten, sie sind nicht deinesgleichen, sondern „die anderen“. Dieses Gefühl der Ehrfurcht verinnerlicht man. Gute Leistungen an der Uni zu erbringen oder Texte in einer großen deutschen Zeitung zu veröffentlichen, das war für mich deshalb immer etwas für die anderen. Dass ich es dazu bringen könnte, hätte ich nie geglaubt. Und hätten mich nicht immer Menschen zum richtigen Zeitpunkt gefördert, wäre ich selbst den Schritt vorwärts wohl nie gegangen.

An der Uni oder zu Hause: Egal, wo man sich als Arbeiterkind gerade befindet, man steht zwischen den Stühlen. Aber das ist kein Grund zum Verzagen, im Gegenteil. Wir verstehen die eine und die andere Welt, wir können schnell dazwischen wechseln und vermitteln. Wieso reden wir nicht darüber, sondern vor allem über die Hindernisse, die sich für uns Arbeiterkinder an der Uni auftun? Es ist Zeit, dass wir die eigene Herkunft als Stärke sehen und an uns und unser Potential glauben.

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