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Column

ZEITWORT DES MONATS / Oktober 2015: täuschen

Heinrich von Kleist charakterisiert seinen Titelhelden Michael Kohlhaas als rechtschaffenen Rosstäuscher. Wie, ein rechtschaffener Täuscher? Wie kann einer täuschen und zugleich rechtschaffen sein? Ganz einfach: "täuschen" bedeutete früher dasselbe wie "tauschen". Der Rosstäuscher Kohlhaas war somit schlicht ein Pferdehändler und ein rechtschaffener dazu. Handel und Rechtschaffenheit geht doch wohl zusammen, oder? Unbedingt gewiss nicht. Der "rechtschaffene Pferdehändler" ist kein hölzernes Eisen, aber auch kein runder Kreis, also weder ein Selbstwiderspruch noch eine Selbstverständlichkeit. Der Handel, sprich Gütertausch, insgesamt lässt sich derart kennzeichnen.

Bleiben wir noch ein wenig beim alten Beruf des Rossetauschers, der im Lauf der Zeit dann doch in Verruf geriet, so dass der Ausdruck "Rosstäuscherei" mittlerweile für jede Art von betrügerischem Handel steht. Bereits im Jahre 1834 erschien ein vor dem handelsüblich gewordenen Vortäuschen falscher Tatsachen warnendes "Handbuch für Pferdekäufer", das sich als "gründliche Anweisung" verstand, "die Rosztauscherkünste zu entdecken". Im heutigen Zeitalter motorisierter und obendrein informationstechnisch manipulierbarer Pferdestärken reichen allgemeinverständliche Ratgeber längst nicht mehr aus, um hinter so manche Tricks der alles andere als rechtschaffenen Tauschpartner zu kommen. Es mutet naiv an, zu glauben, die Rosstäuscherei kenne unter kapitalistischem Konkurrenzdruck unumgängliche Grenzen oder betreffe gar bloß die "PS"-Industrie. Man mag – ob als Konsument oder Investor – in der Geschäftswelt stets von einer enttäuschenden zu einer vertrauenerweckenderen Marke wechseln können: am übel mitspielenden Täuschprinzip führt kein Weg vorbei. Noch die Rechtschaffensten kann es in den Strudel des größten Entsetzens ziehen.

Das von Grund auf täuschende Tauschen gehört zu einer Welt, in der eher der Friede als der Krieg nur ein Zwischenfall ist. Wie sollte auch das täuschende Tauschen den Frieden sichern und nicht den Krieg? Das täuschende Tauschen führt zu Enttäuschungen, die dem Frieden abträglich, dem Krieg zuträglich sind. Enttäuschungen können in Resignation, sogar in Weisheit münden, aber oft auch in Wut, Zorn und tödliche Konflikte. Und dann erst recht feiern die Täuschungsmanöver Hoch-Zeit, die den Konflikt angeheizt haben. Ich wage zu behaupten, dass das Tauschen die Wurzel des Übels ist. Es ist einfach zu leicht, beim Tauschen übervorteilt zu werden. Diese Misslichkeiten des Tauschens mögen sich zwar in einem "freien" und "gemeinsamen" Markt nicht selten ausgleichen, doch im Ganzen steht es um die Freiheit wie um die Gemeinsamkeit äußerst kritisch. Es müssen zu viele meistens nachgeben, wo – zwangsläufig mehr oder weniger täuschend – getauscht wird. Das Tauschen ist selbst beim besten Willen eine Lieblosigkeit, gegen die sozusagen nur "ein geschenkter Gaul" gewachsen ist. Dem braucht man bekanntlich nicht ins Maul zu schauen. Wenn er zu gebrauchen ist, kann man froh sein, und wenn nicht, war es zumindest kein schlechtes Geschäft. Nur Tauschgeschäfte, Geldgeschäfte immer eingeschlossen, können schlechte Geschäfte sein und sind es sogar notwendig. Nur Schenkungen können gute Geschäfte sein. Aus Tauschenden und Getäuschten müssen Schenkende und Beschenkte werden. Wie allmählich diese allgemeine Umorientierung auch vonstatten gehen mag: anders ist die Welt nicht zu retten. Die so gerettete wird kein Mensch mehr gegen noch so viele Tauschwerte eintauschen wollen. Wenn ich mich nicht täusche.

ZITATE
  • Täuschung ist sicherlich typisch für die Menschen. (Terenz: Die Brüder)
  • Die Welt will getäuscht werden. (Sebastian Brant: Das Narrenschiff)
  • Wir werden vom Schein des Rechten getäuscht. (Horaz: Dichtkunst)
  • Wer Lust zu tauschen hat, hat Lust zu täuschen. (Sprichwort)
  • Beim Tausch kommt immer einer zu kurz. (Sprichwort)
  • Weisheit kommt nach der Enttäuschung. (George Santayana)
  • Die unstete Zeit vertauscht Niedriges mit dem Höchsten. (Seneca: Thyestes)
  • Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Großes auf einmal zu schaffen? So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Wertschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen. (Nietzsche: Morgenröte)
  • Wahre Freundschaft tauscht man nicht gegen tausend Pferde ein. (Chinesisches Sprichwort)
  • Niemanden kann man so leicht täuschen wie sich selbst. (Niko Kazantzakis)
(ABC-Bild: Tim Reckmann / pixelio.de)