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Apostile

Luftgespinst

Bei Matthias Claudius lautet im "Abendlied" eine Verszeile: "Wir spinnen Luftgespinste". Das tun wir in der Tat. Indessen nicht nur, wenn wir es an frommer Einfalt fehlen lassen, wie der Dichter anfügt. Wir können als Menschen gar nicht anders. Auch das "Abendlied" ist ein solches Luftgespinst. Und alle Liedertexte samt Melodien. Der biblische Psalter nicht minder. Die Bibel ist voller Poesie, Erzählkunst und Mythenbildung.

Menschen versuchen sich auf alles einen Reim zu machen. Und das gelingt ihnen auch. Oft befremden und irritieren sie einander mit den Luftgespinsten. Immer wieder begeistern und faszinieren sie auch damit. Ob Sprachen, Kunstwerke, Theorien oder Glaubensinhalte: das Menschenwerk hat sich zu einer höchst erstaunlichen, sinn-vollen Welt ausgebaut, ausgesponnen. Die Spinnen wären baff, hätten sie einen Sinn für Sinn.

Aber wir sind offenbar die einzigen Sinnversteher, weil auch die einzigen Sinnbildner in der Natur. Unser großartigstes Sinngebilde ist die Idee des Guten, denke ich. Wie der Mensch auf diese Idee gekommen ist, ist Auslegungssache; denn der Mensch weiß im Grunde nicht, wie ihm geschieht. Deshalb muss er zu Luftgespinsten Zuflucht nehmen, je nach Mentalität eher zu gefühls- oder verstandesbetonten. Die gefühlsbetonteren sind die religiösen und ästhetischen, die verstandesbetonteren die metaphysischen und wissenschaftlichen. Aber Luftgespinste sind es allemal.

Den Verstandes- wie den Gefühlsmenschen steht Demut wohl an. Doch Demut wovor? Wir können wissen, wie unwissend wir sind, und immer wieder die Erfahrung machen, wie wenig wir vollbringen. Das ist jede Menge Grund zur Demut. Aber uns erschließt sich eben auch nicht irgendwo anders Allwissenheit und Allmacht. Uns erschließt sich höchstens, wie sinnvoll es wäre, wenn alles zum Guten gereichte. Und auf diese Einsicht hin kann uns einleuchten, dass wir Beiträge zum Guten leisten können, so bescheiden sie auch sein mögen und so offen die Zukunft sein und bleiben mag.

Gutes tun und Böses lassen allein um des Guten willen – das erscheint mir als die Quintessenz aller Liebesbotschaften. Sie sind, nochmals gesagt, als Luftgespinste anzusehen, einschließlich der christlichen Evangelien. Aber gerade in der luftigen Form können sie die Idee des Guten für das Gespräch aller Menschen miteinander offen halten, statt diese Idee vor lauter intoleranter Absolutsetzung eines bestimmten Glaubens oder Bekenntnisses von vornherein zu verderben.

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Wikipedia: Der Mond ist aufgegangen

BUCHHINWEIS
Hans Küng: Projekt Weltethos (1990)

ABC-Bild: Tim Reckmann / pixelio.de