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Tote ruhen nicht

Kaum umstritten ist, dass Tote nicht schlafen. Sonst hätte etwa Jesus mit den Worten "Lazarus, unser Freund, schläft" seine Jünger nicht beruhigen können. Aus der Sicht eines Tote auferweckenden Heilsbringers mag allerdings der Tod tatsächlich nur ein Schlaf sein, ein atemloser Schlaf, eine Nachtruhe ohne Leben. Das ist aber keineswegs der medizinische Befund, wonach ein Toter nichts mehr erlebt, weder irgendeine Bewegung noch irgendeine Ruhe.

Schon dem Schlafenden kommt der Schlaf meist weniger lang vor als die Stunden, die der Schlaf dauert – dem Toten der Tod ganz und gar nicht. An unserem Leben mögen wir seine Kürze bedauern – von seinem Tod bekommt der Tote nicht einmal den winzigsten Bruchteil einer Sekunde mit. Der Sterbende geht in einen zeitlosen Zustand über, sozusagen in einen Un-Zustand. Das Leben prallt am Tod derart ab, dass es irgendwie durch nichts unterbrochen wird. Beim Eintreten des Todes findet gewissermaßen keinerlei Wechsel statt. Als könnte das Leben nie mit sich fertig werden, weil doch nichts an seine Stelle tritt.

Statt dass sie ruhen, erfasst die Toten womöglich eher erneut die Unruhe des gelebten Lebens, dem an seinem Ende vielleicht nichts anderes übrig bleibt, als umzukehren. Die zeitlos Toten werden von der Zeit ihres Lebens mitgenommen, solange sie keine Totenerweckung erfahren. Von Ruhe kann allenfalls nach Maßgabe dieses Lebens die Rede sein. Mich zumindest würde es nicht überraschen, wenn es statt zu ewiger Ruhe zu derlei Turbulenzen und noch Gott weiß was für Fortsetzungsgeschichten käme.

Wie dargetan, geht aber tot sein wollen, um Ruhe zu finden, von vornherein überhaupt nicht. Der Friedhofschein der Totenruhe trügt.

HINWEIS
Neues Testament: Johannesevangelium 11