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Column

Auf ein Wort: Energie

Energie ist ein Fremdwort (altgriechischen Ursprungs) in aller Munde. Lassen wir uns zur Abwechslung noch einmal gehörig von ihm befremden! Energie – jetzt sei die Sache gemeint – ist nicht nur in aller Munde, sondern in allem überhaupt. Sie ist einfach überall, die universale Gegebenheit schlechthin. Sie ist auch schon immer gewesen und wird auch in Zukunft immer sein. Die Menge der Energie ist zu keiner Zeit mehr geworden oder weniger und wird auch niemals weniger oder mehr werden. Es kann allenfalls sein, dass alles einmal in nichts als Energie aufgelöst sein wird, so wie alles einmal nichts als Energie gewesen sein kann. Wenn es sich so verhält, haben wir Grund zu schwanken, ob die reine Energie überhaupt etwas ist oder nicht vielmehr nichts. Ähnlich zu schwanken, wie Hegel es getan hat, als er das reine Sein wie folgt beschrieb:

"Seyn, reines Seyn, – ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich, und auch nicht ungleich gegen anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner, noch nach Aussen. Durch irgend eine Bestimmung oder Inhalt, der in ihm unterschieden, oder wodurch es als unterschieden von einem andern gesetzt würde, würde es nicht in seiner Reinheit festgehalten. Es ist die reine Unbestimmtheit und Leere. Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann; oder es ist nur diß reine, leere Anschauen selbst. Es ist eben so wenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur diß leere Denken. Das Seyn, das unbestimmte Unmittelbare ist in der That Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts.
(Wissenschaft der Logik, Lehre vom Seyn, Erster Abschnitt, Erstes Kapitel, A.)

"In der That Nichts", so drückt es Hegel aus. Indem er das reine Sein nicht einfach feststellt, sondern untersucht – indem er es nicht einfach nur behauptet, sondern quasi anschauend begründet –, gelingt ihm die Darstellung der reinen Tatsache des Ineinsfalls von Sein und Nichtsein. So gelangt er als Denker zum selben Ergebnis wie Goethe auf die Weise des Dichters:

"Geschrieben steht: 'Im Anfang war das Wort!' / Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? / Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, / Ich muß es anders übersetzen, / Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. / Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. / Bedenke wohl die erste Zeile, / Daß deine Feder sich nicht übereile! / Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? / Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! / Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, / Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe. / Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat / Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!"
(Faust I, Kapitel 6: Studierzimmer)

Stets verdankt sich eine Tatsache einer Tat, stets etwas Wirkliches einem Wirken. So gesehen, liegt selbst dem Nichts ein Wirken zugrunde, von Heidegger "das Nichten" genannt. Geläufiger als das Nichten ist in unserer Sprache das Vernichten. Aber auch kein Vernichten kann Abgründigeres bewirken als eine andere Form von Energie. Keine Energie ist von unwandelbarer Reinheit oder Unreinheit. Die Wandelbarkeit geht der Energie so wenig verloren wie Energie überhaupt verloren gehen kann. Energie steckt immer voller Tatkraft, wie der berühmte Dachziegel irgendwann einmal aus dem Zustand potenzieller Energie in den Zustand kinetischer Energie übergehen und einem Passanten auf den Kopf fallen kann. Und vermeintlich unteilbare, "atomare", Materie eine gewaltige "Kernenergie" freisetzen kann, gemäß Einsteins physikalischem Befund: "Energie ist gleich Masse, multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit".

(Geschrieben am Tag der Plenarsitzung im Deutschen Bundestag, als der Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel das "Energiewende"-Konzept der neuen Bundesregierung vorstellte)

HINWEISE
Aristoteles: Metaphysik
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik
Johann Wolfgang von Goethe: Faust
Albert Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie
Martin Heidegger: Was ist Metaphysik?
Harald Lesch: Was ist Energie?