„Und, wie gefällt dir die Schule?" Diesen Satz hören Erstklässler:innen beinah täglich in den ersten Wochen und Monaten nach der Einschulung. Nachbarn, Freunde, Großeltern, alle wollen wissen, wie es denn nun ist in der Schule. So erging es auch meiner Tochter nach ihrer Einschulung im Herbst letzten Jahres. „Gut", sagte sie monoton. Nicht mehr und nicht weniger, einfach jedes Mal „gut".
Irgendwann fragte ich sie: „Sag mal, gefällt dir die Schule wirklich? Wenn es nicht so wäre, dürftest du mir das sagen." Sie atmete erleichtert auf und sagte: „Langweilig, die Schule ist langweilig." Seitdem erzählt sie jedem, der danach fragt, wie langweilig die Schule ist. Seit gut einem Jahr läuft das jetzt so. Wie können wir als Eltern unserer Tochter helfen? Und: Ist es vielleicht ganz normal, dass Kinder die Schule nicht mögen?
Es gilt, erst einmal anzuerkennen, was für ein krasser Schritt das ist, den unser Kind da gegangen ist, als es von der Kita in die Schule gewechselt ist. Ich erinnere mich noch genau an die Kita-Abschlussfeier meiner Tochter. Einen ganzen Tag waren die damaligen Vorschulkinder auf einem Ausflug im Dino-Park, es gab eine Schatzsuche und ein Buffet für die Kinder. Am Abend durfte ich meine Tochter abholen. Sie wurde aufgerufen und lief strahlend auf mich zu.
In den Armen trug sie eine große Mappe mit all den Bildern, die sie in den fünf Jahren Kita gemalt hatte und ein Sprachlerntagebuch, in das die Erzieherinnen Fotos geklebt und wichtige Fortschritte notiert hatten. Rechts und links auf dem Weg, den meine Tochter durch den Hof der Kita auf mich zulief, standen alle Erzieherinnen und Erzieher und applaudierten. Ich habe heute noch Tränen der Rührung in den Augen, wenn ich mich an das Strahlen im Gesicht meiner Tochter, ihren Stolz und die liebevolle Zuwendung durch die Erzieher:innen erinnere. Das war ganz besonders. Für meine Tochter und für mich. Und die Fallhöhe zur Schule ist entsprechend hoch.
Saskia Niechzial ist selbst Lehrerin und Mutter dreier Kinder. Ich folge ihr bei Instagram, wo sie unter dem Namen „ Liniert kariert " Tipps für Lehrkräfte und Eltern zur „Schule auf Augenhöhe" postet. Mit mir folgen ihr über 100.000 Menschen in dem sozialen Netzwerk. Niechzial erzählt mir im Videochat: „Die meisten Zuschriften, die ich bekomme, beschäftigen sich mit dem Übergang von der Kita zur Schule." In Deutschland sei dieser Schritt ein harter Wechsel. Der neue Ort, die neuen Kinder, eine neue Bezugsperson.
„Übergänge sind für Menschen immer eine Herausforderung", erklärt sie. „Das Allerwichtigste ist, dem Kind Sicherheit zu geben." Wir Eltern müssten schauen, was das Kind braucht. Manche Kinder bräuchten es, den Schulweg ganz oft abzulaufen, bevor sie ihn alleine gehen. Andere wollen mit dem Thema einfach in Ruhe gelassen werden. Wir Eltern sollten aber genau schauen, was bei dem Kind los ist.
Ein wichtiger Tipp, den die Instagram-Lehrerin für mich hat: „Schaut als Eltern auf euch selbst. Da kommen oft Emotionen hoch, die Eltern aus gutem Grund nach hinten geschoben haben." Wir Eltern erinnern uns daran, dass wir Belastendes in der Schule erlebt haben, und projizieren das auf unser Kind, beschreibt Niechzial. Sie hat das selbst erlebt: „Ich bin vom Fach. Ich habe totales Vertrauen zu meinen Kolleginnen und Kollegen. Aber auch ich dachte: Oh nein." Sie wollte am liebsten dabei sein, als ihr Kind in der ersten Klasse in den Klassenraum ging.
„Es ist vielfach nachgewiesen, dass jede Form von Lernen und Wissenserwerb am besten funktioniert auf der Basis funktionierender Beziehungen und Bindung", erklärt mir Nora Imlau im Videogespräch. Die Autorin hat zahlreiche Bücher über Familie, Elternschaft und Erziehung geschrieben und ist selbst Mutter von vier Kindern. In ihrem Buch „In guten Händen: Wie wir ein starkes Bindungsnetz für unsere Kinder knüpfen" geht es darum, wie auch die Schule ein Teil des Netzes aus Beziehung und Bindung ist, das Kinder brauchen.
„Als Lehrkraft Bindungsperson zu sein, heißt mit jedem einzelnen Kind eine Beziehung einzugehen und eine Lernatmosphäre zu schaffen, in der sich Kinder geborgen fühlen." Das klingt schön, denke ich. So sollte die Schule für meine Tochter sein. Imlau erklärt auch: „Der Vorteil bei Schulkindern ist, dass sie zum Bedürfnisaufschub in der Lage sind." Das bedeutet: Sie können auch eine Zeit lang ihr Bedürfnis nach Bindung aufschieben und es dann zu einem späteren Zeitpunkt erfüllen. Imlau weiß, dass nicht jede Lehrkraft ihre Arbeit als Bindungs- und Beziehungsaufgabe versteht.
Wie sieht es denn in der Schule meiner Tochter mit Bindung und Beziehung aus? Und ist das überhaupt der Anspruch, den diese Schule vertritt? Ich spreche mit einer Frau, die es wissen muss. Ina Scheible ist Schulleiterin der Grundschule am Arkonaplatz. Ich kenne sie von der Rede zur Einschulung meiner Tochter. Wir sitzen in ihrem kleinen Büro im ersten Stock das altehrwürdigen Backsteingebäudes an einem alten Holztisch. Der Raum ist dunkel gestrichen. An den Wänden hängen Magnettafeln, an denen der Stundenplan mithilfe kleiner Magnete gesteckt wird.
Es ist sehr gemütlich hier und die sonst auf mich so streng wirkende Schulleiterin ist sehr freundlich. Sie hat sich auf das Gespräch vorbereitet und erklärt mir, wie sie Nora Imlaus Begriff des Bindungsnetzwerkes versteht. „Das ist ein anspruchsvoller Auftrag", sagt Scheible. Sie fügt hinzu: „Wir können das sicher nicht zu 100 Prozent umsetzen, weil das nicht den Ressourcen des Beziehungspersonals in der Schule entspricht."
Die Schulleiterin erklärt mir das so: Zu Hause sei das Kind Manndeckung gewohnt, hier in der Schule gäbe es Raumdeckung. „Für viele Eltern heißt das: Mein wertvolles Kind ist eines von vielen." Ich beginne zu verstehen: Solch eine Bindungs- und Beziehungsarbeit, wie sie eine gute Kita leistet, kann eine Schule gar nicht liefern. Trotzdem, Ina Scheible und alle ihrer Kolleg:innen wollen Bindungsperson der Schüler:innen sein, meint die Schulleiterin.
Sie sagt: „Ich glaube daran, dass Menschen, die diesen Beruf wählen, das tun, weil sie das Beste für die Kinder wollen." „Das Beste" muss die Lehrkraft oder die Erzieher:in dann durch die Anzahl der Kinder teilen, die sie gleichzeitig betreut. Das können bis zu 26 Schülerinnen und Schüler sein. Deshalb sei es so wichtig, dass Kinder ihre Gefühle äußern dürfen. „Wir müssen diese Gefühle nicht teilen", erklärt die Pädagogin. Aber gehört werden müssten sie unbedingt.
Ich habe oft mit meiner Tochter darüber gesprochen, was sie so langweilig findet an der Schule und was sie sich anderes wünscht. Je genauer ich erfuhr, wie so ein Schultag in der ersten Klasse abläuft, desto besser konnte ich sie verstehen. Jeden Tag müssen die Kinder mehrere Stunden an ihrem Platz sitzen, sollen nicht reden und Zettel und Hefte ausfüllen. Sie schreiben Buchstaben, immer und immer wieder. Sie malen Zahlen, immer und immer wieder. Die Highlights ihres Schultages: Sportunterricht (als die Turnhalle noch nicht gesperrt war), der Hort, die Keramik-AG. Und manchmal, wenn sie tuschen, macht es ihr Spaß im Unterricht.
Meine Tochter hat gar nicht verstanden, warum ich das traurig finde. Warum ich mir wünsche, dass sie gerne in die Schule geht. „Aber Mama, ich finde ja nicht die ganze Schule doof, nur den Unterricht", versuchte sie mich aufzumuntern. Autorin Nora Imlau sagt: „Niemand kann gezwungen sein, etwas zu mögen, bei dem er keine Wahl hat." Es sei eine wichtige Frage von Würde, Dinge doof finden zu dürfen, bei dem das Kind kein Mitspracherecht hat. „Es gibt eine Schulpflicht, es gibt keine Schul-gut-finde-Pflicht", fasst Imlau zusammen.
Schulleiterin Scheible sieht das ähnlich: „Für unsere Kinder ist die Schule der Arbeitsplatz", sagt sie. Aber anders als bei den Erwachsenen könne sich das Kind die Vorgesetzten und Kolleg:innen nicht aussuchen beziehungsweise eigenständig den Arbeitsplatz wechseln, wenn etwas nicht stimmt. Natürlich ist es möglich, die Schule zu wechseln. Dafür sei es wichtig, herauszufinden, ob das Kind die Schule nur langweilig und doof finde, oder ob es leide, erklärt Autorin Imlau. „Es ist nicht okay, wenn ein Kind jeden Tag an einen Ort gehen muss, an dem es ihm nicht gut geht."
Wenn ein Kind äußert, dass es Angst habe und da nicht mehr hinwolle, dann gehe es um die seelische Gesundheit des Kindes, erklärt Imlau. Für sie ist eine klare Grenze die der psychischen Gewalt, etwa wenn eine Lehrkraft Schüler:innen abwerte, beleidige oder beschimpfe. Zum Glück erlebt das meine Tochter nicht. Schulleiterin Ina Scheible erklärt mir in ihrem Büro, dass beim Erziehungs- und Bildungsauftrag an der Schule das soziale Miteinander im Mittelpunkt stehe. „Dazu gehört ganz viel Liebe", sagt sie und lächelt. „Wenn Eltern wahrnehmen oder das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt, sollten sie die Lehrkraft ansprechen", erklärt sie. Eltern und die Lehrkräfte und Erzieher:innen machen sich dann gemeinsam auf die Suche nach den Ursachen.
Ich verstehe: Es lohnt sich wirklich, mit den Lehrkräften ins Gespräch zu gehen. Die Frage ist nur, wie. „Wir leben alle von Feedback, Kinder wie Erwachsene", erklärt die Schulleiterin. „Wie man mit uns spricht, ist ausschlaggebend dafür, ob wir Veränderung überhaupt in Betracht ziehen." Instagram-Lehrerin Niechzial spricht sogar von einer „Bildungspartnerschaft" zwischen Eltern und Lehrkraft. Dazu gehöre auch, dass Eltern zurückmelden, wenn ein Projekt gut beim Kind ankam.
Nach über einem Jahr voller Sorgen und Gedanken habe ich akzeptiert, dass der Unterricht eben nicht die reinste Freude für meine Tochter ist. Würde ich mir das anders wünschen? Na klar. Aber ist es ein großes Problem? Nein. Denn es geht ihr nicht schlecht in der Schule, sie hat keine Angst. Sie fühlt sich von ihrer Lehrerin gesehen und verstanden. Nach einigen Monaten in der Schule habe ich angefangen, selbst nach Input für meine Tochter zu suchen. Damit sie mehr lernen und erfahren kann, als die Schule mit ihrem starren Lehrplan ihr geben kann.
Sie hat unzählige Male ein Hörspiel zum Weltall gehört, um mir dann alle Planeten aufzusagen. Wenn wir Fernsehen, gucken wir oft Sendungen, bei denen etwas vermittelt wird: „Checker Tobi" zum Beispiel oder „Die Sendung mit der Maus". Diese Tiersticker, die man am Supermarkt an der Kasse bekommt, klebt sie fleißig in ein Sammelbuch und lernt die Namen der Tierarten auswendig. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es mit den Jahren spannender in der Schule für sie wird.