"Jedes Jahr muss ich beweisen, dass ich für diese Gesellschaft ein würdiger Mensch bin", sagt Ashiq.
Migration ist wohl die Lösung unserer Probleme, das sagt zumindest eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung. Deutschland brauche bis 2060 jedes Jahr mehr als eine viertel Million Zuwanderer. Weil nicht genügend Menschen aus den EU-Ländern kämen, brauche Deutschland pro Jahr rund 146.000 Migranten und Migrantinnen aus Nicht-EU-Staaten.
Dass wir Deutschen immer älter werden und die Arbeitskraft schwindet, ist keine brandneue Nachricht. Trotzdem fehlen ausländische Fachkräfte, die bewusst zum Arbeiten kommen und nicht aus der Not heraus. Liegt es an der deutschen Bürokratie? An Visabestimmungen, dem Arbeitsamt, fehlenden Karrierechancen? Wir haben fünf Zugewanderte gefragt, was sie an Deutschland nervt und warum sie bleiben oder gehen wollten.
Karima, 29, Ingenieurin: "Viele Deutsche wollen kein Englisch sprechen"
VICE: Fühlst du dich gebraucht, wenn du hörst, dass Deutschland pro Jahr circa 146.000 ausländische Fachkräfte benötigt? Karima: Ich höre von dieser genauen Zahl das erste Mal, aber ja, dadurch fühle ich mich hier in Deutschland gebraucht. Aber ich wurde auch von der beeindruckenden deutschen Technologie hergelockt. Im Ausland hat Deutschland den Status des Zentrums für Ingenieurwesen. Ich habe in den letzten drei Jahren meinen Master an der Universität Bremen gemacht und bin jetzt Elektro- und Computeringenieurin. Ich suche erst seit zwei Wochen einen Job, deshalb weiß ich noch nicht, wie meine Chancen stehen.
Ashiq, 37, Regisseur und Musiker: "Der Visumsprozess ist menschliches Versagen"
VICE: Bist du nach Deutschland gekommen, weil dich Jobs gelockt haben? Ashiq: Jein, ich habe eigentlich Freunde in Berlin besucht, aber fand eine Reihe künstlerischer Projekte und erstaunliche Menschen, mit denen ich zusammenarbeiten wollte. Ich bin eher für die Jobs geblieben, nicht deswegen gekommen.
Wie sehr stressen Visafragen oder Ämter? Ich bin als Amerikaner hier ziemlich privilegiert. Aber ich gehe davon aus, dass meine Hautfarbe ein Grund dafür ist, dass ich die ganze Zeit nur einjährige Visa-Erweiterungen erhalte. Das Amt muss jeden unbedingt katalogisieren und dann darf man nur in diesem Bereich arbeiten - ich eben als Künstler. Weniger qualifizierte weiße Freunde aus den USA haben dreijährige Visa ohne Fragen bekommen. Jedes Jahr muss ich denselben Zyklus aus Unwissenheit und Stress durchlaufen, den ganzen bürokratischen Kram sammeln und beweisen, dass ich für diese Gesellschaft ein würdiger Mensch bin. Am krassesten finde ich diese Werbetafeln des Innenministeriums an U-Bahn-Stationen, die Ausländer auffordern, nach Hause zu gehen - da fühlt man sich gleich noch weniger willkommen oder gebraucht. Trotz Deutschlands berüchtigt korrekter Bürokratie gibt es viel Raum für menschliches Versagen, wie im Visumprozess. Warum kann es nicht fairer sein, so wie das kanadische Punktesystem? Das würde vielleicht alle dämlichen NPD und AfD-Arschlöcher beseitigen. Und obwohl das alles negativ klingt, mag ich die Gesetze hier und möchte deshalb bleiben. Es gibt hier ein besseres juristisches Verständnis von Menschenwürde, das in den USA nicht existiert.
Ewa, 34, Dozentin: "Die Jobangebote sind rassistisch"
Ewa möchte lieber kein Foto von sich zeigen. Sie lebt aktuell im schottischen Glasgow und stammt aus Polen. Sie kam 2004 zum Studieren nach Bayern und ging vier Jahre später
VICE: Gibt es etwas an Deutschland, dass dich nervt? Ewa: Mich nervt nichts, es gibt eher Dinge, bei denen ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll. Ich wurde so erzogen, dass Menschen nicht nach Rasse, Nationalität oder Jobstatus beurteilt werden und man jeden respektiert. Als Studentin brauchte ich einen Nebenjob. Ich wollte kellnern, das war am leichtesten zu bekommen und passt gut, wenn man tagsüber studiert. Ich habe also meine Lebensläufe in der Stadt verteilt. Ein Kellner sagte zu mir, dass sie mich nicht einstellen würden, weil die Leute des Restaurants nicht wollen, dass man sie mit ausländischem Akzent bedient. Komischerweise hatte er aber auch einen polnischen Akzent. Allerdings aber auch einen deutschen Pass, der ihm wohl den Job ermöglicht hat.
Chris, 28, Projektmanager: "Eigentlich nur das Wetter und die Grammatik"
VICE: Wusstest du, dass Deutschland jährlich über hunderttausend Zuwanderer braucht für den Arbeitsmarkt? Chris: Um ehrlich zu sein, nein. Mir ist vor allem neu, dass explizit Leute aus außereuropäischen Ländern gebraucht werden. Ich fühle mich dadurch nicht unbedingt gebrauchter, oder noch mehr verantwortlich dafür, meinen Job gut zu machen, und nicht noch eine Stelle freizugeben. Denn besonders bei meiner Arbeit ist der internationale Background und mein Netzwerk wichtig.
Ingrid, 34, Naturwissenschaftlerin: "Die Mentalität der Deutschen ist altmodisch und sexistisch"
VICE: Was nervt dich an Deutschland? Ingrid: Das gleiche, was mich überall nervt: Sexismus. Hier in Deutschland hat das einen sehr heimtückischen Beigeschmack. Die Leute glauben an traditionelle Geschlechterrollen und von Frauen wird erwartet, dass sie ihre Mutterschaft über ihre Karriere stellen. Das habe ich zumindest an meinem Arbeitsplatz beobachtet. Es gibt zwar viele Richtlinien, Gesetze und Programme die auf Gleichberechtigung abzielen, aber das empfinden viele als gezwungen, weil die Mentalität der Leute sehr altmodisch ist. Durch solche Richtlinien wird den Menschen das Gefühl gegeben, ihre eigenen sexistischen Verhaltensweisen und Gedanken nicht in Frage stellen zu müssen. Zum Beispiel wird im MINT-Bereich immer gesagt mehr Frauen sollten kommen - aber es gibt wenige, die wirklich in naturwissenschaftlichen Bereichen arbeiten. Aber immerhin bekommt man hier einen echten Arbeitsvertrag mit Sozialleistungen und Urlaubsanspruch.
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