Arnold Antonin rutscht auf seinem Stuhl hin und her, Furchen ziehen sich über seine Stirn. "Es sind alle Fehler wiederholt worden", sagt er und kann seinen Ärger nur schwer verbergen: Antonin, 72, Filmemacher und eigentlich eine der nachdenklichsten Stimmen der haitianischen Zivilgesellschaft, ärgert sich über das, was in den vergangenen fünf Jahren passiert ist. Oder nicht passiert ist.
Das Erdbeben vom Januar 2010 sei bei all seiner Tragik auch eine Chance gewesen. "Wir hatten die Gelegenheit, eine neue Stadt aufzubauen, durchdacht, erdbebensicher und mit architektonischen Konzepten", sagt der schmale Mann. Stattdessen sei Port-au-Prince wild, anarchisch und ungezügelt einfach auf den Trümmern errichtet worden, die das Beben am Nachmittag des 12. Januar 2010 hinterlassen hatte. In 37 Sekunden riss das Beben weite Teile der Drei-Millionen-Stadt nieder, 220.000 Menschen starben, 2,3 Millionen Haitianer im ganzen Land wurden obdachlos.
Jetzt sei wie früher der Notfall wieder Normalität, sagt Antonin.
Man findet diese These an so vielen Stellen dieser übervölkerten Stadt bestätigt. In den Vierteln, die sich an steile Hänge krallen, sind neue Brettersiedlungen entstanden, die kaum einen Sturm, geschweige denn ein neues Beben aushalten. Aber vor allem in Canaan, einem Ort, 25 Kilometer außerhalb der Hauptstadt, wiederholen sich die Fehler.
Die Siedlung, benannt nach dem biblischen Kanaan, wo Milch und Honig flossen, ist unvorstellbar arm, errichtet im Staub der kahlen Hügel entlang der Route Nationale 1, der Ausfallstraße in den Nordwesten Haitis. Hier im irdischen Canaan fließt weder Wasser noch sonst etwas.
Kein Wasser, keine Kanalisation, kein Strom
Die Siedlung entstand in den Tagen und Wochen nach der Katastrophe. Überlebende und Obdachlose flüchteten in ihrer Not aus der sterbenden Stadt in die Hügel außerhalb und hofften, eine der Hunderten Hilfsorganisationen im Land möge kommen und sich ihrer erbarmen.
Damals kamen nur wenige Helfer, sie waren alle gebunden in Port-au-Prince. Heute sind fast keine mehr da. Der Staat war sowieso noch nie hier, sagen die Menschen. "Es gibt kein Wasser, keine Kanalisation, keinen Strom, zu wenige Ärzte, kaum Polizisten", klagt Toussaint Myson. Der kleine Mann mit Schnauzer und kräftiger Stimme hält mit der linken Hand die Bibel fest umklammert. Mit der Rechten holt er weit aus und ruft: "Hier ist nichts als Staub, Hitze und Verderben."
Myson ist Lehrer, aber seine wahre Berufung ist Laienprediger in einer der unzähligen evangelikalen Freikirchen Haitis. Und so schreit er eher, als dass er spricht.
Die Sonne steht senkrecht am Himmel, der Blick fällt auf Wellblechhütten, Bretterbuden, Marktstände, angeordnet ohne Struktur. Wie viele Menschen leben hier, Monsieur Myson? "Das weiß nur der Allmächtige", sagt der Laienprediger. Experten von Nichtregierungsorganisationen schätzen, dass in dem Flüchtlingslager mehr als 300.000 Menschen hausen.
Canaan, die "hässlichste Narbe des Erdbebens"
In Canaan fällt vor allem die hohe Zahl an Lottobuden auf, und Baustellen, an denen evangelikale Freikirchen entstehen. Vielen Menschen in Haiti bleiben eben nur Glück oder Gott. "Canaan ist ein Slum, so wie es schon viel zu viele in Haiti gibt", ärgert sich der Filmemacher Antonin. Auch Präsident Michel Martelly hält den Ort für die "hässlichste Narbe des Erdbebens".
Hunderttausende provisorische, halbprovisorische und auf Dauer angelegte Häuser haben Hilfsorganisationen aus aller Welt in den Jahren nach dem Beben gebaut: "Aber es war unmöglich, alle Bedürftigen zu versorgen", sagt ein Entwicklungshelfer. Bis zu 600.000 Menschen lebten phasenweise in riesigen Zeltlagern auf den Plätzen von Port-au-Prince und dem Reichenvorort Pétionville, klemmten sich unter Planen in Baulücken, auf Trümmerberge und auf grüne Felder außerhalb der Stadt.
Die internationale Gemeinschaft und die Regierung konnten nicht schnell genug Wohnraum schaffen. Das Beben traf ein Land, das schon vorher ein Sozialfall und ohne externe Unterstützung kaum lebensfähig war. Ein NGO-Mitarbeiter, der Haiti lange schon kannte, bemerkte kurz nach dem Beben zynisch: Es sah hier ja schon immer aus, als habe das Land eine große Katastrophe heimgesucht.
Heute leben laut Vereinten Nationen gerade noch 30.000 Menschen in den Zeltlagern, auch weil Präsident Martelly sie sanft dazu zwang, die Lager zu räumen. Er drückte Hunderttausenden jeweils 500 Dollar in die Hand und ließ danach räumen. Die Obdachlosen zogen vorübergehend woanders zur Untermiete ein oder siedelten sich gleich in neuen prekären Wohnlagen an. Nachhaltigkeit sieht anders aus.
Wer durch diese geschundene Stadt fährt, merkt, dass in Port-au-Prince allmählich urbane Strukturen entstehen. Am "Champs de Mars", dem Hauptplatz gegenüber dem ehemaligen Präsidentenpalast, werden mit ausländischem Geld ein neuer Justizpalast und ein neues Grundbuchamt hochgezogen, es entstehen Büro- und Geschäftsgebäude, ein halbes Dutzend Hotels und Supermärkte werden eröffnet. In vielen Elendsvierteln pflastern die Bewohner ihre Wege mit Steinen, die aus dem Schutt der Trümmer gewonnen wurden, finanziert von Hilfsprogrammen. Bald wird es nahe dem Flughafen eine Hochstraße geben, damit man den ständigen Staus entgeht.
Aber sonst ist Haiti nicht so recht weitergekommen seit 2010. Mitschuld daran - so sagt Präsident Martelly - trage die internationale Gemeinschaft. Die sei ihren Versprechen nicht nachgekommen. Von den zwölf Milliarden Dollar an Aufbaugeldern sei nur ein Drittel angekommen.
So stehen Hauptstadt und Land heute wieder da, wo sie am Vorabend des Bebens standen. Nur mit besseren Straßen, neuen Flughäfen, einem erwachenden Tourismus. Aber die strukturellen Probleme eines der ärmsten Länder der Welt seien nach wie vor nicht gelöst, sagen Entwicklungshelfer. "Die profunde Armut, die unfähige politische Klasse, ständige Naturkatastrophen und Seuchen wie Cholera" machten das Land zu einem der ärmsten Flecken auf dem Planeten.
Sechs von zehn Haitianern leben von weniger als einem Euro am Tag. Die Menschen werden im Durchschnitt gerade einmal 60 Jahre alt. Arbeitslosigkeit und Analphabetismus liegen bei 60 Prozent, das jährliche Pro-Kopf-Einkommen bei rund 700 Dollar und damit rund viermal niedriger als in der benachbarten Dominikanischen Republik. Auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen belegt Haiti Platz 168 von 189 Ländern.
Filmemacher Arnold Antonin fällt zu seinem Land nur ein trauriger Satz ein: "Haiti bleibt das Land des permanenten Provisoriums, es ist ein großes Desaster."
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