Taiwan wählt ein neues Staatsoberhaupt. Die Kandidaten streiten vor allem über eine Frage: Soll Taiwan mit China kooperieren - oder sich weiter distanzieren?
Kaum steigen die chinesischen Touristen aus ihrem Reisebus, schallen ihnen ungewohnte Töne entgegen. "Willkommen in Taiwan", beginnt es noch harmlos. Wie ein Reiseführer hat Eugene Chang sich Mikro und Lautsprecher vor den Bauch geschnallt.
Doch statt vom Wolkenkratzer Taipei 101 zu erzählen, in dessen Schatten der Bus gehalten hat, lenkt er die Aufmerksamkeit auf eine Gruppe Taiwaner in leuchtend gelben Westen, die im Schneidersitz auf dem Pflaster meditieren.
Sie sind wie Chang Anhänger der spirituellen Falun-Gong-Bewegung, die in China als "böser Kult" verfolgt wird. "Sie sehen, es gibt in Taiwan einige Besonderheiten", fährt der 48-Jährige fort, "etwa Demokratie und Glaubensfreiheit."
So recht wissen die Chinesen mit der Situation nicht umzugehen. Einige feixen, andere hören demonstrativ weg. Chang redet unbeirrt weiter. Falun Gong werde in China verteufelt, aber nirgendwo sonst, und tue niemandem etwas.
"Wer die Glaubensfreiheit anderer achtet, tut auch sich und seiner Familie etwas Gutes", schließt er nach drei Minuten. In China hätten zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich längst Sicherheitskräfte eingegriffen. Doch in Taiwan gibt es ein Demonstrationsrecht. "Die Polizei ist auf unserer Seite", erzählt der grauhaarige Geschäftsmann Chang fröhlich.
Chinesische Aufpasser in jedem ReisebusTaiwan ist das andere China. Dort, auf der Insel Formosa, führte der General Tschiang Kai-schek die "Republik China" fort, nachdem Maos Kommunisten ihn 1949 vom Festland vertrieben hatten.
Mittlerweile ist dort eine Demokratie entstanden, deren Freiheitsgrad mit westlichen Staaten vergleichbar ist. Am Samstag wählt Taiwan Präsident und Parlament, und dabei geht es um den Umgang mit dem mächtigen, misstrauischen Nachbarn.
Peking ist durchaus bewusst, dass Taiwan ein Gegenmodell verkörpert. Weil in jedem Reisebus staatliche Aufpasser dabei sind, ignorieren die Chinesen Flugblätter und Broschüren, doch alle mustern mehr oder weniger verstohlen die großen Schrifttafeln, auf denen Falun Gong die Gräueltaten des kommunistischen Regimes anprangert.
Bilder von Folteropfern stehen da neben niedergewalzten Demonstranten auf dem Tiananmen. Viele der mehr als eine Million Chinesen, die 2011 nach Taiwan reisten, dürften Eindrücke mitgenommen haben, die kaum zur Propaganda ihres Regimes passen. Danach ist die "Schatzinsel" Taiwan "untrennbarer Bestandteil" Chinas, und die Bewohner ersehnen die "Wiedervereinigung", der nur eine Clique von "Separatisten" im Weg steht. Doch die Freiheit macht den Unterschied.
Zuflucht für VerfolgteWen auch immer China verfolgt oder schikaniert - die Chancen stehen gut, ihm in Taiwan zu begegnen: Tibeter beteiligen sich an den Wahlen zu ihrer Exilregierung, der Dalai Lama war schon dreimal auf der Insel. Taiwans Präsident Ma Ying-jeou beglückwünschte den inhaftierten Liu Xiaobo zum Friedensnobelpreis und besuchte kürzlich eine Ai-Weiwei-Ausstellung in Taipehs Kunstmuseum.
Und Wu'er Kaixi, einst einer der meistgesuchten Männer Chinas, wählt zum Treffen ausgerechnet ein Café gegenüber vom Hauptquartier der Kriminalpolizei. 1989 war der massige Mann mit der dröhnenden Stimme einer der Studentenführer von Tiananmen. Nach der Niederschlagung der Proteste rettete er sich mit knapper Not nach Taiwan, wo er heute als Banker und Familienvater lebt.
"Taiwans Gesellschaft verkörpert das Prinzip der Freiheit noch besser als viele westliche Länder", sagt Wu'er Kaixi.
Nach mehr als 20 Jahren im Exil wünsche er sich nichts mehr, als seine Eltern wiederzusehen. Doch Peking lässt ihn nicht mehr ins Land. "Die Taiwaner haben ihre Freiheit extrem schnell angenommen. Noch kann ich hoffen, dass China eines Tages wie Taiwan wird."
Zum ersten Mal bei einer Wahl in Taiwan tritt eine Frau anFast 40 Jahre lang herrschte Tschiang Kai-scheks nationalchinesische Kuomintang-Partei per Kriegsrecht. Im Kalten Krieg galt Taiwan dem Westen zwar als "freies China", doch von Freiheit war wenig zu spüren.
Die Kuomintang hatte den Staatsapparat der auf dem Festland untergegangenen "Republik China" mit sich gebracht und einen Polizeistaat errichtet, der keine abweichenden Meinungen duldete. Taiwans erste freie Präsidentenwahl 1996 gilt allgemein als Beginn der demokratischen Ära.
Zum ersten Mal bestimmte damals ein chinesischsprachiges Land sein Staatsoberhaupt in freier Wahl selbst. Die Volksrepublik feuerte aus Missfallen einige Raketen in Taiwans Gewässer. 16 Jahre und zwei friedliche Machtwechsel später wählen die Taiwaner am 14. Januar zum fünften Mal ihren Präsidenten und auch ein neues Parlament.
Vor vier Jahren betrug die Wahlbeteiligung 76 Prozent. Diesmal könnte sie noch höher sein, denn es wird spannend: Zum ersten Mal seit Staatsgründung tritt mit der Oppositionskandidatin Tsai Ing-wen von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) eine Frau an.
Zwar gibt es keine von unabhängiger Seite veröffentlichten Umfragen, doch in allen Prognosen liegen die Herausforderin und Präsident Ma Ying-jeou von der regierenden Kuomintang praktisch gleichauf. Im Parlament dürfte die Regierungspartei zudem ihre Zweidrittelmehrheit einbüßen.
Im Wahlkampf geht es auch um die Identität des LandesIm Wahlkampf geht es um die Wirtschaftslage, insbesondere die mit etwa vier Prozent für taiwanische Verhältnisse hohe Arbeitslosigkeit. Aber es geht auch um das Verhältnis zu China und damit um die eigene Identität.
So legt die Kuomintang, die sich mittlerweile zur Demokratie bekennt, großen Wert darauf, dass Taiwan sich offiziell noch immer "Republik China" nennt. Sie hat ihre Wurzeln auf dem Festland, und für viele ihrer Anhänger gehören die beiden Seiten eigentlich zusammen - wenn auch nicht unter dem Vorzeichen der Volksrepublik.
Die aus der Dissidentenbewegung hervorgegangene DPP dagegen sieht China lediglich als Nachbarn, mit dem man in Frieden leben möchte, und betont die kulturelle und politische Eigenständigkeit Taiwans.
Die letzte Wahl gewann Ma mit dem Versprechen, durch engere Wirtschaftsbeziehungen zu China den politischen Konflikt zu entschärfen und Taiwans Wirtschaft in Schwung zu bringen.
Er schloss eine Reihe bilateraler Abkommen und Peking stellte das Säbelrasseln ein. Dennoch beklagen viele Wähler stagnierende Einkommen und eine wachsende soziale Spaltung. Mit dem Versprechen von mehr sozialer Gerechtigkeit trifft die DPP darum einen Nerv.
Internationale DemütigungenEinig sind die Anhänger beider Seiten sich zumindest darin, dass sie in einem souveränen Land leben, das de facto alle Kriterien der Staatlichkeit erfüllt - eigene Verfassung, Armee, Währung -, aufgrund chinesischen Drucks aber politisch kaltgestellt wird.
Taiwan, eine der 25 größten Volkswirtschaften der Welt, darf kein UN-Mitglied sein und wird auf internationaler Bühne immer wieder gedemütigt. Auch Deutschland lobt gelegentlich Taiwans Demokratie, unterhält aber aus Rücksicht auf Peking keine diplomatischen Beziehungen.
Die Menschen wissen genau, wem sie es zu verdanken haben, wenn wieder einmal ihre Flagge nicht gehisst werden darf oder ihre Sportler bei Olympischen Spielen unter Bezug auf ihre Hauptstadt als "Chinese Taipei" antreten müssen.
"Taiwan ist in einer traurigen Lage, aber wir können es nicht ändern. Die ganze Welt hat Angst vor China", sagt Jen Hsu bei Nudeln und Gemüse nach Feierabend in einem Restaurant in einer Seitengasse von Taipeh.
"Das führt dazu, dass die Taiwaner immer wütender auf China werden." Die 31-jährige Angestellte gehört zu der Generation, die Taiwans demokratischen Wandel als Teenager miterlebt hat und ihre Freiheiten nicht wieder hergeben will.
Mehr als 1000 chinesische Raketen sind auf die Insel gerichtetChina umgarnt die 23 Millionen Taiwaner seit Jahren mit der Aussicht, vom riesigen Festlandsmarkt zu profitieren, und hält gleichzeitig die militärische Drohkulisse aufrecht. Mehr als 1000 Raketen sind ständig auf die Insel gerichtet.
Dabei arbeitet die Zeit gegen Peking. Wie Jen Hsu sehen sich laut Umfragen mindestens zwei Drittel der Taiwaner nicht mehr als "Chinesen" - Tendenz steigend.
"Unsere Kultur ist nicht mehr rein chinesisch", sagt Hsu. "Und besonders wichtig ist, dass wir unseren Präsidenten selbst wählen können. Die Chinesen haben dieses Recht nicht."