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Feature

Im toten Winkel der Geschichte

Schönheit sei der Glanz der Wahrheit, heißt es ja. Henrike Naumann findet ihre Wahrheit eher in der absurden Hässlichkeit einer Epoche, die zu frisch in der Erinnerung ist, um schon wieder cool zu sein


Es braucht nicht viel Fantasie, sich vorzustellen wie zum Bauhaus-Jubiläum 2019 in Festreden, Ausstellungen und Katalogen erneut die utopische Kraft jener Avantgarde-Bewegung beschworen wird, die zum Synonym für die Moderne an sich geworden ist. Inmitten einer politischen und wirtschaftlichen Krise waren die Bauhäusler angetreten, um bei null anzufangen und das Leben neu zu ordnen. Am Beginn stand der radikale Bruch mit der Gegenwart und die Gewissheit eines »Neuen Menschen«. Vielleicht erscheint auch deshalb vieles von dem, was das Bauhaus ausmachte, bis heute seltsam makel- und zeitlos, wie ein funktionalistisches Raumschiff, das lautlos über den Boden der Geschichte schwebt.

Anders als das Bauhaus wird die Designrevolution, die 70 Jahre nach Gropius und Weimar auf dem Gebiet der DDR inmitten einer politischen und wirtschaftlichen Krisensituation ihren Anfang nahm, mit Sicherheit nicht gefeiert werden. Diese Geschichte ist zu dystopisch, verworren und widersprüchlich, und sie hält in gewisser Weise auch noch an. Auch wenn etwa die frühe Techno-Bewegung dieser Wende- und Postwende-Zeit durchaus kulturelle Stoßwirkung und Avantgarde-Qualitäten besaß: Bei den Feiernden, die in den Kellern und Industrieruinen die Nächte durchtanzten, konnte man das Begehren spüren, bei null anzufangen und das Leben neu zu ordnen. Sie waren – auf ihre Art und Weise – Gestalter neuer Räume: akustisch, flüchtig und drogeninduziert-halluzinogen. Wer war damals besser mit der Zukunft verkabelt als sie? Gleichzeitig warfen die Eltern eben jener Techno- Kids die alten Schränke, Anrichten, Betten und Sofas aus den vorangegangenen Jahrzehnten aus ihren Wohnungen und deckten sich mit neuen Billigmöbeln und Sprenkelmuster-Teppichen beim Discounter ein. Auf den Straßen im Prenzlauer Berg und anderswo türmte sich der Sperrmüll der Geschichte. Anfang der Neunziger setzte ein neues, geradezu blindwütiges Wohnen ein.

Wenn es stimmt, dass so etwas wie ein kollektives Wohngedächtnis existiert – was ist dann in den frühen Neunzigern in den »Neuen Bundesländern« geschehen? Eine Art gesellschaftlicher Filmriss? Der Drang, der Geschichte zu entrinnen, produzierte Wohnungen ohne Vergangenheit. Schnell hochgezogene Möbelhäuser gehörten zu den ersten großen räumlichen Manifestationen der neuen Zeit. Sie halfen kurzfristig, lang aufgestaute Konsumbedürfnisse zu befriedigen. »Möbel repräsentierten gesellschaftliche Strukturen«, sagt die Künstlerin Henrike Naumann, die in ihrer Kunst oft auf Alltagsgegenstände zurückgreift. Und deshalb könne man auch über Thematisierung von Designfragen gesellschaftliche Strukturen zur Diskussion stellen. Gerade auch dort, wo man mit Diskussionen nicht weiterkomme, kann womöglich Naumanns Möbel-Kunst dazu führen, das Gespräch wieder aufzunehmen. Im letzten Herbst etwa stellte die Künstlerin in dem historisch signifikanten Saal des Berliner Kronprinzenpalais, in dem 1990 der Einigungsvertrag unterzeichnet wurde, Schrankwandteile in Stonehenge-Formation auf und nannte ihre Installation Das Reich. Die Vertragsunterzeichnung ist ein zentraler Punkt in der Ideologie der militanten wie esoterischen »Reichsbürger«-Szene, welche die Existenz der Bundesrepublik infrage stellt.

Kehrt man die Verbesserungsmythen der Moderne in ihr Gegenteil, dann müsste man fragen: Macht schlechtes Design Menschen böse oder radikal? Was macht das mit einem, wenn man von einer aggressiven Formensprache umgeben ist? Warum kleben sich Leute plötzlich Wandtattoos mit völkischen Sprüchen in Fraktur über ihr Sofa? Die Trash-Ästhetik der Wendezeit und der folgenden Jahre ist ein Feld, das Naumann, geboren 1984 im sächsischen Zwickau als Tochter einer Tischlerin und Holzgestalterin, fast im Alleingang beackert. Seit Herlinde Koelbl hat wohl niemand mehr so genau in deutsche Wohnzimmer geschaut. Als Kind erlebte die Künstlerin die Wiedervereinigungsphase als ästhetischen Schock. Erst später als Studentin begriff sie die Zusammenhänge zwischen trapezförmigen Beistelltischen oder der postsozialistischen Pyramiden- und Keksrollenarchitektur sowie der Wucht, mit der sich im Ostteil Deutschlands die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ab 1989 überschlugen. Der radikale Bruch der Ästhetik im privaten wie öffentlichen Raum und die Tatsache, dass die Dinge plötzlich so sehr anders aussahen als zuvor, bezeichnet Naumann als »das große Rätsel meines Aufwachsens«. Die theoretische Beschäftigung mit der Postmoderne während des Studiums brachte ihre eine Art Offenbarung. Deshalb ist die »Ästhetik der Wiedervereinigung«, mit welcher sich die Künstlerin in ihren Installationen, Film- und Soundarbeiten unter anderem beschäftigt, ein paradoxes, gleichzeitig- ungleichzeitiges und schillerndes Zwitterwesen. Je nachdem, wie man darauf schaut, handelt es sich um die Postmoderne der Neunziger im Osten oder die Postmoderne der Achtziger im Westen – in einer höchst eigentümlichen deutsch-deutschen Verschraubung. Wie Memphis auf Crack.

In ihrer Kunst widmet sich Naumann höchst spekulativen Fragen. Bedingen sich Design und Politik? Wie hängen Hedonismus und Pegida-Heimatschutz-Paranoia zusammen? Und natürlich geht es auch darum, wie es gelingt, in einer Umgebung ein Heimatgefühl zu entwickeln, die sich nicht erinnern lässt. Naumann nennt die von ihr bearbeiteten Phänomene auch »Post-Wende-Ästhetik« oder »Ästhetik der Deutschen Einheit«. Sie ist so verbreitet und schwer greifbar wie der IKEA-Katalog von 1990.

Naumann fasziniert die Tatsache, dass alle Gegenwart irgendwann historisch ist, genauso wie der Wunsch, an einen Punkt in der neuesten Geschichte zurückgehen zu können, um sich mit einem Ereignis noch einmal retrospektiv und intensiv auseinanderzusetzen. Sie interessiert sich für die Motive hinter den Handlungen der Menschen und für Pop- und Alltagsphänomene ebenso wie für die Prozesse, die im Nachhinein ein Ereignis »historisch« machen. Sie begibt sich auf die Suche nach der Techno-Gabber-Kultur in den Niederlanden oder rekonstruiert den Weg eines Kreuzberger Rappers zu den IS-Dschihadisten in Syrien. Man könnte das vielleicht wegen des Zoom-Faktors einen »mikrohistorischen Ansatz« nennen. Aber auch wenn Naumann im Stil einer Kultursoziologin oder Geschichtsforscherin Texte, Bilder, Sounds und Objekte sammelt, Bibliotheken und Archive besucht, bleibt ihr assoziativer Zugriff auf das Material doch ein sehr künstlerischer. Ihre Zeitmaschine ist die Kunst. Und anders als die Wissenschaftler kann sie die großen Fragen auch unbeantwortet lassen. 2016, auf dem Höhepunkt der sogenannten »Flüchtlingskrise«, produzierte Naumann ein Puzzle, indem sie eine historische Schwarzweißaufnahme vom Oktober 1989 aus dem provisorischen Auffanglager für DDR-Flüchtlinge aus Prag im bayrischen Hof verwendete. Das Puzzle mit 1000 Teilen legte sie in einer ihrer Ausstellungen auf einem Couchtisch aus. Wegen der vielen Grauflächen ließen sich die Teile jedoch nicht mehr zu einem großen Ganzen zusammenfügen.

Schon das Graben in der jüngst vergangenen Gegenwart erweist sich als ergiebig. Naumann begrüßt es, dass ein großer Teil ihres Publikums die Zeit, um die sich ihre Kunst dreht, schon selbst miterlebt hat und mit den Formen, die sie in ihren Installationen zitiert, vermutlich mehr oder weniger auch vertraut ist. »Vergangenheit, die man gerade so schön verdrängt hat, ist ein interessantes Feld«, erklärt sie. »Mich beschäftigen beispielsweise solche Sachen wie die Expo 2000 in Hannover, die irgendwo schlummern, für die sich aber noch niemand so richtig interessiert hat.« Natürlich hat man es immer geahnt, aber Naumann bringt es endlich auf den Punkt: Nicht die ehemalige Mauerstadt Berlin liefert den Stoff für die Analyse deutscher Gegenwartsmentalität, sondern die Schröder- und Maschmeyer-Stadt Hannover.

An der Expo und dem dortigen deutschen Pavillon, die eine zentrale Rolle in ihrer Ausstellung in Mönchengladbach spielen wird, fasziniert sie vieles: Da ist etwa die Figur der Generalkommissarin Birgit Breuel, die marktradikale ehemalige Präsidentin der im Osten als »Plattmacher« verhassten Treuhandanstalt. Oder das seltsame, 400 000 Mark teure Jingle, das Kraftwerk für Hannover komponierte. »Zehn Jahre nach der ›Wiedervereinigung‹ wurde ein gewisser Aufwand betrieben, um ein bestimmtes Bild von Deutschland zu zeichnen«, sagt Naumann (die das Wort »Wiedervereinigung« nur in Anführungsstrichen verwendet wissen möchte, da es ihr ein wenig zu »reichsideologisch« klingt). Im Sinne einer »Rave-Diplomatie« wurde während der Expo Techno- und Clubkultur als politisches Marketinginstrument vielleicht zum ersten Mal auch politisch in Dienst genommen. Die Idee eines neuen, lässigen Deutschlands, dass neben Goethe und Schiller auch noch den DJ Dr. Motte zu bieten hatte, schien damals verlockend, genauso wie das Idealbild des unpolitischen, konsum- und technikaffinen »jungen Ravers mit Kuhfell-Jacke, der Bock auf einen T- Mobile-Vertrag hat«. Denn das augenzwinkernd als politisch ausgebebene erste Love-Parade-Motto Friede-Freude-Eierkuchen war als Signal auch problematisch. Wie man heute weiß, begannen – während im Expo-Tanzpalast »Fun 2000« an den Wochenendnächten die Techno-Bässe wummern – anderswo in Deutschland die jugendlichen Terroristen des sogenannten »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) mit ihren grausamen Mordanschlägen. Wie hängen Hedonismus, Eskapismus, Radikalisierung und Rechtsextremismus zusammen? Ein widersprüchliches, verworrenes, bedrückendes Bild.

Naumann studierte zwischen 2006 und 2012 zunächst in Dresden Bühnenbild, später in Potsdam Szenografie. Ihre erste Ausstellungsbeteiligung hatte sie 2012 in den Berlin-Schöneberger Kunstsälen. Dass sie nun in der bildenden Kunst gelandet ist und nicht beim Theater oder Film – darüber ist sie nicht erstaunt. »Rückblickend fühlt sich das ganz logisch an. Ich habe immer das gemacht, was mich am meisten interessiert hat, und dann dafür einen Raum gesucht.« Film und Theater vermisse sie nicht, sagt Naumann, denn in der Kunst habe sie die Möglichkeiten, all das zu machen, was sie interessiere. Am Anfang jeder Arbeit steht eine Idee, eine Fragestellung oder auch nur ein ästhetisches Phänomen, das die Künstlerin aufgreift. Aus der anfänglichen Fragestellung ergibt sich das spätere Medium, also Möbelinstallation, Soundarbeit, Performance oder ein Film.

Für ihre Schau in Mönchengladbach hat sie neulich einen Schrank gesucht, der aussieht »wie eine Ruine«. Aber sie musste ihn nirgendwo ausgraben, sondern wurde über das Netz in einem verlassenen Kinderzimmer in Berlin-Charlottenburg fündig. Naumann selbst scheint hauptsächlich über diese Innenwelten zu staunen, denen sie ihre Fundstücke zum Zweck der Kunstproduktion entwindet. Die Befragung von Geschichte, Politik, Ökonomie und Designideologie kann man nicht erledigen, indem man über den Dingen schwebt. Im Gegenteil, man kommt den Leuten ganz handfest und fast unheimlich nahe. Die Vorstellung etwa, dass Menschen täglich im Angesicht eines anthropomorphen Garderobenständers erwachen, erscheint tragisch und komisch zugleich. Die Künstlerin will diese Irritation für ihr Publikum spürbar machen. Naumanns Kunst ist von einer intellektuellen Analyse der Gegenwart getragen. Doch ohne ihr besonderes Gespür für das Unsagbare, das sich zeigen lässt, würde es nicht gelingen. Hat sie ein mulmiges Bauchgefühl oder schreckt sie intuitiv vor dem nächsten Schritt zurück, dann weiß sie, dass die Richtung stimmt.

Dieser Artikel erschien zuerst in art – Das Kunstmagazin (Ausgabe 4/2018) und war für den Michael-Althen-Preis 2018 nominiert .