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Feature

Keith Harings Pop Shop: Als das Shopping zur Kunst wurde

Ein normaler Shop soll plötzlich Kunst sein? Schwierig – doch Keith Harings »Pop shop« in Manhattan war kein normaler Laden: Der Street-Art-Künstler inszenierte ihn zugleich als Raumkunstwerk, Galerie und Lifestyleobjekt – und erwies sich als Musterschüler des Pop.


Andy Warhol zeigte sich nicht sonderlich beeindruckt, als er 1986 Keith Harings Pop Shop ein paar Tage nach dessen Eröffnung Anfang Mai besuchte. Warhol war auf dem Weg zu einer Kenny-Scharf-Eröffnung in der Galerie von Tony Shafrazi, und da er Shopping liebte, bot der Zwischenstopp im Pop Shop an der 292 Lafayette Street eine willkommene Gelegenheit, sich mit ein paar Haring-Motivarmbanduhren einzudecken. Im kühlen Stil eines Unternehmers notierte Warhol am nächsten Morgen in sein Tagebuch: "Fünf Leute arbeiten dort, zwei Chefs und drei Kids. Sie bekommen acht Dollar die Stunde. Aber der Laden ist schwer zu finden. Er liegt etwas abseits, und das macht viel aus. Ich weiß nicht, ob die Leute dort hingehen. Immerhin waren Kunden im Laden." Als Haring bald darauf Warhol bat, T-Shirts mit dessen düster dreinschauendem Konterfei und wild verstrubbelter Silberperücke für den Pop Shop zu produzieren, war Warhol dabei. Allerdings zog dessen Manager Fred Hughes die Shirts ein paar Tage nach ihrer Auslieferung wieder ein: Sie waren als quasi Original-Siebdrucke einfach zu kostbar, um zu Merchandisingpreisen verkauft zu werden.


Andy Warhol produzierte T-Shirts für Haring


Mit dem Mitte April 1986 eröffneten Pop Shop am nordöstlichen Zipfel von SoHo zündete Haring eine weitere Stufe seines kometenhaften Aufstiegs. Allerdings war er sich auch der Risiken des Unternehmens bewusst: "Natürlich wusste ich, dass ich eine Menge Kritik ernten würde, doch ich wusste ebenso, dass er [der Pop Shop, d. A.] genau das war, wonach manche meiner Arbeiten verlangten – da führte kein Weg dran vorbei." Haring ahnte, dass der Laden ein Balanceakt sein würde: "Es durfte nicht in krassen Kommerz ausarten, und ich wollte nicht meine Position in der Kunstwelt gefährden – das war mir wichtig, denn ich wollte mir nicht den Respekt jener Künstler verscherzen, die mir etwas bedeuteten." Dass ihm ausgerechnet Warhol T-Shirts für den Shop produzierte und ihn damit adelte, dürfte Haring extrem wichtig gewesen sein.

Lediglich sechs Jahre war es her, dass der ehemalige Kunststudent im Winter 1980 damit begonnen hatte, die New Yorker U-Bahn mit seinen graffitiartigen Hieroglyphen zu überziehen – bellenden Hunden, strahlenden Babys, lichtbeamenden Ufos. Anders als die Graffiti-Künstler seiner Zeit, die mit ihren nächtlichen Streifzügen durch die Bahndepots eher wie unsichtbare Guerilla-Saboteure agierten, versteckte Haring sich bei seinen Aktionen nicht, sondern genoss die Anwesenheit des Publikums. Für ihn waren sie eine Art Performance. Je mehr Leute ihn oder seine Zeichnungen sahen – desto besser. Graffiti kam in der Kunstwelt gerade groß in Mode, und weil der ausgebildete Künstler scheinbar mühelos beide Welten zu vereinen wusste, wurde er in kürzester Zeit ganz nach oben katapultiert. Aus heutiger Sicht wirkt eine solche Karriere undenkbar: Im Sommer 1982, mit nur 24 Jahren, nahm er bereits an der Documenta in Kassel teil (nur der ebenfalls beteiligte 21-jährige Konkurrenten-Freund Jean-Michel Basquiat war noch jünger). Seine erste reguläre Galerie-Ausstellung hat Haring jedoch erst im Oktober des Documenta-Jahres bei Tony Shafrazi in der Mercer Street.


»Man muss genauso agressiv sein wie Werbung«


Für seine Subway-Zeichnungen auf den schwarz überklebten, unvermieteten Werbeflächen in den Stationen benötigte Haring nur zwei bis drei Minuten. An guten Tagen schaffte er rund 30 oder 40 Kreidezeichnungen. Haring wollte sich multiplizieren, er malte wie  im Rausch. Für den Jungen aus der Kleinstadt in Pennsylvania war New York wie eine Befreiung, seine Figuren vermehrten sich wild wie eine invasive Spezies in den Verästelungen des großstädtischen U-Bahn-Netzes. "Auf einmal passte alles zusammen. Alles, was ich in meinen letzten zwei Jahren in New York gesehen und beobachtet hatte, machte plötzlich Sinn." Haring hatte einen Weg gefunden, "mit den Graffitikünstlern mitzuhalten, ohne sie zu plagiieren". Denn: "Auf die Züge zeichnen wollte ich nicht, hatte keine Lust, mich in die Depots zu schleichen, um heimlich die Außenwände oder das Innere der Waggons zu bemalen." Hatte Haring seine Kreidezeichnungen anfangs nur auf dem Hin- und Rückweg zur Arbeit produziert, zog er nun immer öfter los, um seine Strahlen-Babys systematisch unter die Leute zu bringen: »Wann immer ich aus dem einlaufenden Zug eine schwarze Fläche entdeckte, stieg ich aus, machte mich über sie her und fuhr mit dem nächsten Zug weiter." Der minimalistische, klare Strich seines oft provokanten Zeichenarsenals war kein Zufall: "Wenn man mit der Reklame konkurrieren will, muss man genauso aggressiv sein." Haring entdeckte, dass ein Stück Kreide in seiner Hand ein Werkzeug war, mit dem er seine Botschaften in den semiotischen Körper der Stadt einschrieb.

Die Frage nach der widerständigen Aneignung des städtischen Raums lag in der Luft. Wer Ende der Siebziger nach New York kam, war mit der Wucht der Graffiti konfrontiert. Bereits im Herbst 1975 beschrieb der französische Philosoph Jean Baudrillard in seinem Essay "Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen" das Hereinbrechen der Graffiti-Tags über die Stadt: "Die Stadt ist nicht mehr das politisch-industrielle Vieleck, das sie im 19. Jahrhundert gewesen ist – heute ist sie ein Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes." Haring war kein Graffiti-Künstler, sondern ein Künstler, der sehr sensibel auf Graffiti reagierte: Seine Zeichnungen entwickelte er wie eine Art Universal-Code, mit dem er die Mehrheit der Pendler erreichen wollte. Während seines letzten Jahres an der new York School of Visual Arts (SVA) 1979 hatte sich Haring eingehend mit Semiotik beschäftigt. Er las die Texte von Umberto Eco und Roland Barthes und entdeckte die Cut-Up-Poeten William Burroughs und Brion Gysin. Bevor Haring mit seinen Kreidezeichnungen im öffentlichen Raum begann, schnitt er Schlagzeilen aus der "New York Post" aus, arrangierte sie neu mit Klebeband auf Papier, vervielfältigte die Collagen mit einer Xerox-Maschine und verteilte diese Blätter im Sommer 1980 im East Village: Die punkartigen Flyer machten sich über den Papst lustig und über den konservativen Präsidentschaftskandidaten Ronald Reagan, der Anfang November die Wahl gegen den Demokraten Jimmy Carter gewann. Waren diese Werke eher dem aufrührerischen Punkgestus verpflichtet, so eignete er sich mit den Kreidezeichnungen den Habitus der anderen großen Protestkultur an: den des Hip-Hops. Nicht nur in der Art und Weise, wie er sie produzierte – von lauter Musik begleitet, malte Haring seine großflächigen Bilder mit geradezu tänzerischen Bewegungen –, sondern auch in dem, was viele seiner Figuren unmissverständlich darstellten: extrem gelenkige Breakdancer.


Er bemalte alles und jeden


Niemand und nichts war vor Haring sicher. Er bemalte einfach alles: Madonnas Lederjacke, die nackten Körper des Tänzers Bill T. Jones und der Sängerin Grace Jones (letztere fotografiert von Robert Mapplethorpe), er entwarf Sneaker und Ziffernblätter von Swatch-Uhren. 1986 vermittelte ihm Andy Warhol den Auftrag, eine Anzeige für die schwedische Marke Absolut Vodka zu gestalten. Als Haring Mitte der Achtziger zum Weltstar heranwuchs, wurde es aus verschiedenen Gründen immer schwieriger, weiterhin in der Subway zu zeichnen. Einerseits waren die Kreidezeichnungen wertvoll geworden – die Leute begannen damit, sie abzureißen. Andererseits war Haring in der ganzen Welt unterwegs, um Ausstellungen und andere Projekte anzuschieben – er war einfach nicht mehr so oft in New York. Wie konnte er den Geist der Straße beibehalten und für alle sichtbar bleiben? Der Shop erschien als ein Ausweg: Er bot einerseits die Möglichkeit weiterhin eine andere Öffentlichkeit zu erreichen, als das klassische Galerien- und Museumspublikum. Andererseits war er Harings Versuch, die Kontrolle über seine Schöpfungen und deren Vermarktung zu behalten. Die Nachfrage nach seinen Motiven war enorm. Harings Swatch-Uhren beispielsweise waren der Renner im New Yorker Weihnachtsgeschäft im Dezember 1985: Das Stück kostete 50 Dollar und die wichtigsten Kaufhäuser der Stadt – Bloomingdale’s, Macy’s und Saks auf der Fifth Avenue hatten sie im Angebot.


Pop als erweiterte Performance


Bei seinen vielen Reisen nach Europa oder Japan entdeckte Haring immer wieder gefälschte T-Shirts und andere Waren mit seinen Motiven. Trotzdem sah der Künstler selbst seinen Pop Shop nicht in erster Linie als Maschine, um mit Merchandising Geld zu verdienen. In seinen Tagebüchern spricht er von ästhetischen Gründen: "Der Pop Shop ist eine erweiterte Performance". Haring wollte weiterhin auf der gleichen Ebene kommunizieren wie mit den U-Bahn-Zeichnungen, sein breit gefächertes Publikum behalten. "Ich wollte ihn als einen Ort verstanden wissen, wo nicht nur Sammler, sondern auch Kids aus der Bronx hinkommen konnten." Margaret Slabbert, Harings Finanzbuchhalterin, erzählte seinem Biografen, dass das keine hohlen Phrasen waren: "Keith will, dass stets eine bestimmte Atmosphäre im Laden herrscht, die sich an den Street Kids orientiert. Er will, dass der Shop auf keinen Fall zu einer herkömmlichen Boutique wird. Und die Leute, die dort arbeiten, sind mehr oder weniger Street Kids." So funktionieren auch heute Trendshops.

Mit seinen weißen, krummen Wänden, der ebenfalls getünchten Decke und dem hell gestrichenen Boden, alle überzogen mit einem Haring-Hieroglyphen-All-Over, ähnelte der Shop eher einem mit lauter Rapmusik beschallten Club als einer klassischen Modeboutique. In den beiden Schaufenstern blinkten das Strahlen-Baby und der bellende Hund um die Wette. Für die Inneneinrichtung hatte Haring extra ein Architekturbüro engagiert: Ihm schwebte ein "fun place" vor, eine Art verspieltes »Infozentrum« für das Haring-Universum – allein daraus bezog der Shop seine Existenzberechtigung. Wäre der Laden dieser zentralen Bedeutung nicht gerecht geworden, hätte Haring nicht gezögert, ihn wieder dichtzumachen. Die Kunden wurden über einen in die Wand eingelassenen Durchreichetresen bedient, der den Schauraum vom Warenlager trennte. So wollte der Künstler einerseits den Raum wirken lassen, anderseits aber auch Ladendiebstahl vorbeugen: "Ich wusste, dass wenigstens die Hälfte meiner Klientel junge Leute sein würden und dass die Versuchung sicher groß wäre – vor allem bei T-Shirts und diesen kleinen Spielereien, Buttons, Pins und Aufklebern." Um mehr Publikum anzulocken, mietete Haring riesige Werbe-Billboards auf der vielbefahrenen Houston Street, Ecke Broadway.


Der totale Ausverkauf?


Kritiker hinderte das nicht daran, von Ausverkauf zu sprechen. Es spielte auch keine Rolle, dass Läden als Orte des Marktes auch schon attraktive Orte für Pop-Künstler der ersten Generation, etwa Claes Oldenburg, gewesen waren. Es hieß, Haring verkaufe in seinem Shop "industriellen Plastikschrott", während Sammler wie der Schauspieler Dennis Hopper "längst fünfstellige Beträge" für Originale zahlten. Noch schlimmer: "Haring nahm das Geld und malte nebenher und gratis für den Untergrund." Haring selbst fühlte sich missverstanden und seine eigentliche Motivation nicht richtig wiedergegeben: "Der Pop Shop entwickelte sich organisch aus dem Werk heraus. Ich musste mit der Bewegung gehen und zulassen, dass die Bilder Teil der Massenkultur wurden – anstatt sie wieder in die Kunstwelt zurückzuholen und dort zu verstecken." Interessanterweise sahen gerade Harings Galeristen den Pop Shop nicht als Konkurrenz, sondern als logische Weiterentwicklung. "Der Laden selbst ist ein Kunstwerk", erklärte etwa Leo Castelli. "Keith Haring", so lobte auch der Kulturphilosoph Bazon Brock, "war überzeugt, über Museumsshop-Objekte seine Bildhieroglyphen schneller und intensiver weltweit verbreiten zu können als mit herkömmlichen Bilderschauen. Und er hatte recht. Überall identifizieren auch jene Harings Bildsprache an Jo-Jos, Uhren, Mützen, Buttons, Stickern, T-Shirts, die nie ein Gemälde von Haring gesehen haben." Nichts konnte die Hüter der Kultur mehr in Rage bringen als jemand, der so wenig Wert auf ihren Segen zu legen schien.


Heute ist der Pop Shop längst kanonisiert. Nach seiner Schließung Ende April 2005 landete ein Teil der von Haring bemalten Ladendecke in der New-York Historical Society, wo er heute über dem Kassenbereich schwebt. Die Londoner Tate rekonstruierte das gesamte Interieur für die Ausstellung "Pop Life", die später auch nach Hamburg wanderte. Und an Nachschub von Haring T-Shirts mangelt es auch nicht. Sie werden immer weiterproduziert – derzeit von der japanischen Kette Uniqlo. Um die Vermarktung kümmert sich die New Yorker Keith Haring Foundation – gemeinsam mit dem Museum of Modern Art.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in art – Das Kunstmagazin, Ausgabe 6/2015.