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Interview

Gilbert & George: Nie zu viel nachdenken!

Seit über 40 Jahren fasziniert das Londoner Künstlerduo Gilbert & George mit groteskem Auftreten und Bildern die internationale Kunstszene. In ihren jüngsten Arbeiten, den "Jack Freak Pictures", beschäftigen sich die beiden "lebenden Skulpturen" mit der Bürde des Nationalismus, der Schönheit kahler Platanen und Monstern in den Straßen der britischen Metropole. Die art-Autoren Sandra Bartoli und Kito Nedo trafen die beiden Eminenzen der Konzeptkunst in Berlin.


Kito Nedo, Sandra Bartoli: Gilbert & George, betrachtet man die Anfänge Ihrer Karriere, dann fällt auf, dass Sie mit Ihrem ersten Werk, der Living Sculpture 1970, also schon sehr früh, durch westdeutsche Kunsthallen, Kunstvereine und Galerien getourt sind. Wie kam es dazu?

George: Ganz einfach. Harald Szeemann initiierte 1969 die Wanderausstellung "When Attitude becomes Form", zu deren jeweiligen Stationen lokale Kuratoren eingeladen wurden, zwei, drei Künstler hinzuzufügen. Die Schau war auf dem Weg nach London und wir bekamen mit, dass Charles Harrison der Londoner Co-Kurator sein würde. Harrison war ein Bekannter von uns, so dass wir uns ziemlich sicher waren, dass er uns einladen würde. Doch das tat er zu unserer großen Bestürzung nicht. Wir standen unter Schock und sahen das als eine große, verpasste Chance: Unsere Künstlerkarriere schien beendet, noch bevor sie wirklich beginnen konnte!


Was haben Sie getan?

George: Wir entschieden uns, die Situation zu retten und trotzdem als "Living Sculptures" (Lebendige Skulpturen) auf die Eröffnung zu gehen. Also richteten wir uns mit unseren farbbesprenkelten metallischen Köpfen und Händen her, fuhren zum ICA, stellten uns in die Mitte des Raums und verharrten dort reglos für den Rest des Abends. Wir haben den anderen komplett die Schau gestohlen! Ganz am Schluss kam ein junger Mann auf uns zu und sagte: "Ich bin Konrad Fischer, wir machen was zusammen in Düsseldorf" Das war damals der berühmteste Galerist der Welt. Er führte uns auch bei den deutschen Kunstvereinen und Kunsthallen ein.

Er besorgte Ihnen die Auftritte in Deutschland?

Gilbert: Fischer sagte: "Warum macht ihr dieses Ding das ihr 'Singing Sculpture' nennt, nicht in der Düsseldorfer Kunsthalle?" Wir hatten das bis dahin in den Londoner Kunstakademien gemacht, Royal College, St. Martins, aber immer nur für fünf Minuten. Das war's. Wir dachten: wenn wir in ein Museum eingeladen werden, kann man das nicht für fünf Minuten machen und dann gehen. Also fuhren wir nach Düsseldorf und machten es für eine Woche, jeden Tag acht Stunden lang. Wenn das Museum öffnete, fingen wir an, und wenn es schloss, hörten wir auf. Jeder kam, um uns zu sehen.

Also war die Länge ihrer Performance das Neue?

Gilbert: Wir machten keine Performance, sondern machten uns selbst zur Skulptur. Das ist ein großer Unterschied. Jeder will das Performance nennen, aber wir waren nie Performance-Künstler. Wir haben uns selbst verfestigt. Das ist heute noch so, dazu brauchen wir jedoch kein metallisches Make-up mehr.

Warum ist das keine Performance?

George: Es kann keine Performance sein. Jeder, egal, welcher Schicht oder Altersgruppe, war von der "Singing Sculpure" fasziniert. Wenn Künstler Performance machen, stößt das viele Leute eher ab. Das Gefühl bei Performances ist eher schmutzig, Antiestablishment und schräg – man wälzt sich auf dem Fussboden und macht komische Geräusche. So etwas haben wir nie getan.

Sie haben mal gesagt, in Deutschland würde man Sie nur zu technischen Dingen befragen, die Deutschen seien unfähig, emotional auf ihre Kunst zu reagieren.

George: Mittlerweile hat sich das geändert.

Gilbert: Das war jedoch lange Zeit unser Gefühl. Wir hatten nie große Ausstellungen in Deutschland. Die Künstler hier mochten uns, die Sammler und die Museumsdirektoren jedoch nicht, es sei denn, sie kamen selbst aus dem Ausland. Wir haben nie verstanden, warum die deutschen Museumsdirektoren unsere Arbeit nicht mochten. Vielleicht liegt es daran, dass die nur deutsche Kunst lieben und höchstens noch amerikanische? So sieht es aus. Man sieht es auch daran, wie wenig Bilder von Francis Bacon in deutschen Museen hängen.

Das klingt in der Tat merkwürdig!

George: Uns hat das auch sehr verwirrt. 1994 hatten wir eine große Ausstellung in Wolfsburg. Es gab eine Pressekonferenz mit einer Menge Journalisten. Der damalige Direktor, Gijs van Tuyl, gab denen eine Einführung und sprach zunächst über eine parallel laufende Ausstellung mit niederländischer Grafik. Alle schrieben eifrig mit. Als van Tuyl sagte: "Nun kommen wir zur Hauptausstellung!", ließen alle wie auf Kommando ihre Stifte fallen, niemand machte mehr nur eine einzige Notiz. Es hat sie nicht interessiert. Wir haben das nicht verstanden.

Heute ist es anders?

George: Dieses Mal sind alle Journalisten nett und normal. Früher wurden wir nicht nur nach der Technik unserer Bilder gefragt, sondern auch danach, ob wir vorhätten, gemeinsam zu sterben. Das war üblich. Nichts dergleichen dieses Mal.

Gilbert: Wir haben den Eindruck, dass jetzt jeder verstehen will, womit wir uns beschäftigen. Vielleicht sind wir endlich alt genug! (lacht)


Sehen Sie sich selbst als Vorbild für zukünftige Beziehungen?

George: Manche Leute könnten das durchaus so empfinden.

Gilbert: Aber über solche Dinge denken wir nie nach. Unser Motto ist: Nie zu viel nachdenken! Auch wenn wir Kunst machen, denken wir nie nach. Das Wichtigste ist das Machen! Später kann man über das Ergebnis nachdenken.

George: Wir wissen, dass eine Menge Frauen eifersüchtig sind, weil sie die Ungerechtigkeit in ihren Beziehungen spüren. Selbst wenn der Mann ein großer Bankmanager ist, darf die Frau nur die kleinen Dinnerpartys organisieren. Das ist einfach nicht gleichberechtigt. Wir sind beide absolut gleichberechtigt. Totale Gleichberechtigung ist nur sehr schwer zu erreichen.

Das liegt an der Verschiedenheit der Geschlechter?

George: Es ist schon überraschend, wie gut Männer-Frauen-Paare auskommen, wenn man bedenkt, wie verschieden die Geschlechter sind.

Gilbert: Wenn sich eine Frau amüsieren will, trifft sie sich mit anderen Frauen. Dann haben sie viel Spaß. In London zumindest, da sieht man sie in Gruppen zusammen ausgehen. Auch die Männer flüchten aus der Ehe und treffen sich mit den anderen Jungs im Pub.

George: Wir brauchen so etwas nicht. Wir müssen nicht voreinander fliehen.

Sie haben immer proklamiert: "Kunst für alle!" Ist diese Mission erfüllt?

Gilbert: Noch nicht, aber es funktioniert, wir haben viele Fans. Nicht jeder mag uns, aber viele Leute. Das genügt. Alle kommen sie und wollen Hände schütteln. Erinnerst du dich, wie wir neulich auf dem Weg zur Bank of England waren?

George: Wir liefen durch die Stadt, um Erledigungen zu machen. Ein sehr gut gekleideter Mann, Bankertyp, sagt plötzlich im Vorbeigehen: "Guten Morgen! Sehr gut gemacht!" Das ist doch reizend, oder?

Wenn man Ihr Werk betrachtet, fallen Dinge wie Standardisierung und Formatierung auf. Haben Sie von der modernen Wirtschaft abgeschaut?

Gilbert: Unsere Kunst basiert auf sehr guter Organisation. Wir wissen genau, wo alles ist. Das ist unsere Freiheit. Weil wir wissen, wo sich alles befindet, können wir es abrufen. Wenn man das nicht weißt, kann man es nicht machen. Damit haben wir am ersten Tag begonnen. Alles ist sehr organisiert.

Ihre Bilder setzen sich aus kleineren Rahmen zusammen, man kann sie leicht transportieren. Das ist ein ziemlich technischer Ansatz.

George: Genau.

Gilbert: Als wir damals damit begannen, wollten wir ein großes Bild aus vielen kleinen Bildern machen. Vor 30 Jahren kannten wir solche Werke noch nicht. Also mussten wir selbst herausfinden, wie man solche Bilder produziert. Genauso wie die modernen Architekten von heute arbeiten.

Spielen Fortschrittsideen bei Ihnen eine Rolle?

Gilbert: Sie meinen Evolution? Evolution ist wichtig für uns! Oder meinen Sie Fortschritt? Wir sind keine kritischen Künstler. Wir kümmern uns nicht um den amerikanischen Präsidenten, die Bombe oder das Waldsterben. Wir sind sehr optimistische Menschen. Wir lieben es, Dinge zu produzieren. Wir lieben die Idee, mit diesen Sachen zu überzeugen. Deshalb treffen wir uns auch nicht gern mit vielen anderen Leuten. Das würde uns kontaminieren. Wir gehen nicht auf Dinnerpartys und unterhalten uns mit anderen Künstlern über deren Projekte.

Was interessiert sie an der Natur?

Gilbert: Uns geht es nicht um die Natur, die man durch die Augen sieht. Es geht vielmehr um die Natur, die man im Kopf hat. Wie eine schizophrene Idee von der Welt. Wahrnehmung funktioniert nicht wie eine Linse, die registriert, was um einen herum passiert. Es funktioniert eher so, als würde man die Augen schließen und die Welt durch sein Gehirn erfahren. Wir wissen nicht, wie die Welt ist, wir erfahren sie nur durch unsere Hirne. Und jeder hat ein anderes Hirn.

Sie sind Konstruktivisten?

George: Über die Jahre haben wir viele Bilder von Bäumen auf unserem Nachbargrundstück gemacht. Immer wieder haben wir sie fotografiert, 1975, 1978 und so weiter, aber nie benutzt. Allerdings immer nur die kahlen Bäume in der Winterzeit. Mit Blättern fanden wir sie todlangweilig. Jetzt konnten wir die Bilder im Zusammenhang mit dem Union Jack und den Monstern benutzen. Später fanden wir heraus, dass die Platanen die größten lebenden Dinge in London sind. Sie sind größer als die Giraffen im Zoo! Die Rolle der Platane in der Geschichte ist auch ziemlich aufregend. Als der persische Herrscher Xerxes, der so genannte König der Könige, auf seinen Reisen zum ersten Mal eine Platane erblickte, war er so verliebt, dass sein ganzer tausendköpfiger Zug stoppen musste, weil er den Baum für ein paar Wochen betrachten wollte. All seine Konkubinen mussten all ihr Geschmeide ablegen und den Baum damit behängen. Das war der erste Weihnachtsbaum, lange Zeit bevor es überhaupt Christen gab!

Sie haben die Monster erwähnt – gibt es einen Rokoko-Aspekt in Ihren neuen Bildern?

George: Darüber haben wir nie nachgedacht. Aber ja: das Grotesque. Das Monster mit den hundert Brustwarzen. Alles hat einen monströsen Aspekt. Wenn Menschen aufhören, sich zu lieben, erinnern sie sich plötzlich an diese abstoßenden Dinge: eine Nase, ein Ohr, ein Geruch, die Haut – irgendein körperliches Element. Natürlich gibt es in jedem Land auch Einrichtungen, wo Monster im Verborgenen gehalten werden, weil sie einfach zu unterschiedlich aussehen. Das Ganze steckt voller Themen, ganz außergewöhnlich. So viele Gedanken und Gefühle!

Es geht aber auch um hoffnungsvolle Monster?

Gilbert: Wir mögen Monster! Natürlich!


    Autoren: SANDRA BARTOLI, KITO NEDO

    Dieses Interview erschien im Juni 2009 auf art-magazin.de