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Feature

Willkommen im Club

Das Berghain, Berlins legendärer Technoclub, ist nicht nur Tummelplatz der internationalen Partyszene, sondern auch Schauplatz spektakulärer Kunst von Marc Brandenburg, Sven Marquardt und Piotr Nathan – Bilder aus dem Maschinenraum des Lebens.


"Berghain? Da war ich heute Nacht schon dreimal“, erklärt die Taxifahrerin mit milder Entrüstung: keine Wegbeschreibung nötig. Es ist Sonntagmorgen, acht Uhr – die optimale Zeit, um ohne lästiges Anstehen in den Berliner Technoclub zu kommen, der von den Anhängern der DJ-Kultur zu einer der besten Locations der Welt gezählt wird.An guten Wochenenden frequentieren schätzungsweise 3000 Besucher den 2004 eröffneten Club in der Anlage eines ehemaligen Heizkraftwerks in der Nähe des Ostbahnhofs. Mit seiner Mischung aus brutalistischem Industrieruinen-Chic und entgrenztem sexuellem Abenteuerspielpatz ist das Berghain zur mythischen Chiffre für den radikalen Hedonismus des neuen Jahrtausends geworden. So stark strahlt dieser Mythos, dass das dreigeschossige Haus längst nicht mehr nur die schwule Lederszene und abenteuerlustige Berlin-Touristen, den sogenannten "Easyjetset", in Ekstase versetzt. Mittlerweile findet sich der Ort auch ausgiebig in einem Suhrkamp-Bändchen beschrieben, und sogar die "FAZ" schickte ihre E-Musik-Redakteurin in die psycho-akustischen Gewitter wummernder Bassboxen, um später über die "speziellen Rezeptionsbedingungen der Clubmusik" zu reflektieren. Ja, es stimmt: Die Technokultur ist in die klassische Phase eingetreten, und das Berghain ist ihr Bayreuth und ihre Factory zugleich. Ein großer Betonklotz mit neoklassizistischen Fassadenelementen im Niemandsland zwischen Kreuzberg und Friedrichshain als kollektiv verwirklichtes Gesamtkunstwerk, das jeden Feiernden potenziell zum Produzenten macht – das ist das Konzept der medienscheuen Clubbetreiber Norbert Thormann und Michael Teufele.


Was den Club aber auch einzigartig macht, ist der Platz, der hier der zeitgenössischen Kunst eingeräumt wird. Kaum hat man das Gebäude betreten, steht man auch schon vor der 25 Meter langen Zeichnung des Berliner Künstlers Piotr Nathan. "Rituale des Verschwindens" lautet der Titel, eine allego­rische Darstellung der vier Elemente. Es sei ihm wichtig, sagt Nathan, "dass man die Zeichnung nicht als Skizze oder etwas Nebensächliches missversteht". Diese Botschaft kommt an. Wie eine überdimensionale Membram trennt die Kunst die hell erleuchtete Garderobe vom Dunkel des eigentlichen Clubgeschehens. Als letzte Mahnung an das feiersüchtige Volk wirken die vier ineinanderfließenden Katastrophenszenarien im eigentümlich antiquierten Stil historischer Holzstiche auf 175 pulverbeschichteten Aluminiumplatten. Durch Nathans erhabene Panoramen der Naturgewal­ten treten die Club-Besucher hindurch wie einst Lewis Carrolls Alice hinter die Spiegel – Kameras bleiben an der Garderobe.


Unzählige Inschriften, Verschmutzungen und Beschädigungen


Der Titel "Rituale des Verschwindens" zie­le, so Nathan, auf die Musik und die Räume des Sozialen in der Technokultur: "Dass man sich darin verliert – das würde ich nicht sagen, aber dass man eins mit der Musik wird, ein Teil von ihr, das schon. Besonders im Berghain hat das Zusammenkommen von Feiernden etwas Rituelles." Für die gegensei­tige Bedingtheit von Architektur und Ge­sell­schaft interessiert sich der 1956 in Gdansk geborene Künstler, der an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg studiert hat, schon seit den frühen achtziger Jahren. "Ein in Eile verlassenes Haus" heißt etwa eine Arbeit, für die er 1985 in ei­ner leeren Wohnung in Hamburg Silhouetten der Vormieter in die alten Tapeten schnitt. Als Vorlagen für seine Schnitte nutzte er al­te Fo­tografien, die er in den verlassenen Räumen vorfand. Später zimmerte er aus ausrangierten Türen öffentlicher Männertoiletten ein Dutzend Sitzobjekte ("Traumdeutung", 2004), wobei die unzähligen Inschriften, Verschmutzungen und Beschädigungen das einfache Material mit explizit homosexueller Bedeutung aufladen. Hier wird der dokumentarische Charakter von Architektur durch Abnutzung ergründet und durch einen Ortswechsel er­fahrbar gemacht.

Auch bei Nathans Wandzeichnung im Berghain liegt der Reiz in der Verschie­bung, denn ein 25 x 5 Meter großes Kunstwerk an einem nächtlichen Vergnügungsort zu zeigen ist nicht üblich, selbst in Berlin nicht, wo Allianzen von Clubkultur und bildender Kunst eine gewisse Tradition haben: Dafür stehen Orte und Namen wie die in den achtziger Jahren legendäre Nachtbar Kumpelnest 3000 oder die Kunstband "Die tödliche Doris". Später fungierte der Panasonic-Club auf der Invalidenstraße als Kristallisationspunkt der Kunst- und Nightlifeszene, und inzwischen berauschen sich auch Museums­kuratoren an den experimentellen Clips, die Videokünstler Safy Sni­per im Club Transmediale zusammenmixte. Im Clubambiente verliert die Kunst ihren Sonderstatus, sie gehört einfach zum Nachtleben dazu, als Teil eines größeren Ganzen. Dadurch wird sie profaner, flüchtiger wahrgenommen und ist vergänglicher als im Museum. Aber vielleicht besteht gerade darin ihre neue Macht.


Schnappschüsse von einer Anti-Nazi-Demonstration


Je mehr man ins Innere des dunklen Berghain-Labyrinths vorstößt, desto mehr Kunstwerken begegnet man. Oben etwa, in der Panorama-Bar im zweiten Stock, hängen unübersehbar zwei große Fotografien von Wolfgang Tillmans: ein kühles, abstraktes Motiv aus dessen "Freischwimmer"-Serie sowie ein Bild einer entblößten Frauenscham, eine Art Remake der Jetzt-Zeit von Gustave Courbets Skandal-Akt "Der Ursprung der Welt". Neben der Panorama-Bar stechen einem die mit Siebdrucken bearbeiteten Fenster einer kargen Lounge ins Auge: Wie durch ein Prisma schaut man einer großen Maschine direkt in die Eingeweide. Wenn am Morgen im Osten die Sonne aufgeht, beginnen die mechanischen Strukturen in einem satten Goldton zu glühen, und eine geisterhafte, schwarze Fontäne wirft einen grauen Schatten in den Raum.

Die titellose Installation ist der jüngste Coup des Künstlers Marc Brandenburg, der seit seinen Anfängen in den späten Achtzigern in Berlin mit unverwechselbarer Handschrift Popkultur und Alltagseindrücke verarbeitet. In seinen verfremdeten Schwarz-weißbildern vereinigen sich paradoxerweise Zeitgenossenschaft und Zeitlosigkeit in strenger, schnörkelloser Form. Anders als Nathan, dem die Zeichnung in seiner Praxis ein Medium unter vielen ist, ist Brandenburg ausschließlich Zeichner, der jedoch seine Motive – meist Straßenszenen und Porträts – trickreich verändert und über verschiedene Bildträger wandern lässt. "Die­ser Gedanke hat mich immer fasziniert, dass man sich nur mit Zeichnung beschäftigt und dann daraus alles Weitere entsteht", sagt der 44-Jährige, der von der Berliner Top-Galerie CFA vertreten wird. Brandenburg setzt mit einfachen, aber effektiven Mitteln wie in einer Feedback-Schleife einen Prozess von gegenseitigen Brechungen und Spiegelungen in Gang, deren Ziel einzig und allein die schamlose Verführung des Betrachters ist. "Ich glaube an simple Ideen, dass man mit wenig Aufwand tolle Dinge herstellen kann."

Wie auch in der Berghain-Installation die­nen Brandenburg als Ausgangsmaterial für seine Bilder "gefrorene Momente", die er mit seiner Kamera auf der Straße, im Freundeskreis, in den Medien, in seiner Nachbarschaft oder auf Reisen findet. Das können Schnappschüsse von einer Anti-Nazi-Demonstration sein, ein rotierendes Karussell auf dem Alexanderplatz, Kotzlachen auf dem Gehsteig oder die Fontäne eines Springbrunnens. All diese Motive werden mithilfe des Fotokopierers oder Com­puters verfremdet, seit Mitte der neunziger Jahre immer ins Negativ umgedreht und manchmal auch zu abstrakten Schlieren überdehnt, bevor sie Brandenburg in nächtlichen, rauschhaften Arbeitssessions mit harten Bleistiftschraffuren aufs Papier bringt. Je größer die Formate sind, desto länger zieht sich die Produktion. Was im Endeffekt entsteht, ist ein psychedelisch verfremdeter Gegenwartsroman in Bildern: "Die Motive verändern sich, je nachdem, wie ich drauf bin und was gerade mein Interesse bestimmt. Aber es ist schon so, dass für mich eine Chronik der jeweiligen Zeit entsteht, ein persönliches Memory-Spiel."


"Auf Lesungen rumzuhängen, das war nicht unser Ding"


Die wohl nur bei wenigen anderen Künstlern seiner Generation ist Brandenburgs Biografie über Jahrzehnte mit der Geschichte (West-)Berliner Feierkultur verwoben. Schon als Jugendlicher trieb sich der 1965 als Sohn eines amerikanischen GIs und einer Deutschen geborene Künstler im Nachtleben Westberlins herum und verdiente dort in verschiedenen Konstellationen sein Geld als Türsteher, Bar­mann, DJ, Modemacher und Model. "Man kann", so schrieb kürzlich eine Wochenzeitung, "Marc Brandenburgs künstlerische Sozialisation mit den markanten Orten der Berliner Nacht seit 1979 in Beziehung setzen: Dschungel, Kumpelnest 3000, Möbel Olfe, Ostgut und heute das Berghain." 

Das wohl bekannteste Gesicht des Berghain jedoch gehört Sven Marquardt. Jeder, der den Technotempel betreten will, steht zunächst mal vor dem bulligen Türsteher mit den bläulichen Ganzkörpertattoos und den einschüchternden Lippenpiercings. Der 1962 in Berlin geborene Fotograf war – ähnlich wie Marc Brandenburg – ein exzessiver Akteur der Punk- und Modeszene der achtziger Jahre. Doch ihre Wege haben sich erst viel später gekreuzt. Denn Marquardts Künstlerkarriere begann auf der Ostseite der Mauer – Ende der siebziger Jahre mit einer Ausbildung zum Fotografen beim damaligen Fernsehen der DDR. Den normalen Weg zu gehen, so sagt der Fotograf, damit habe er sein Leben nicht vergeuden wollen. Lieber bewegte er sich im Umfeld der freien Modegruppen CCD (Chic Charmant und Dauerhaft) und später auch Allerleirauh, die in der Agonie und Erstarrung der DDR-Endphase mit fulminanten Happenings die Aufmerksamkeit des Untergrunds auf sich zogen. Als Teil der Szene am Prenzlauer Berg zelebrierte man das Leben als Bohemien in Ruinen, doch den selbstquälerischen Intellektuellen-Existenzialismus vieler Literaten lehnte man ab. "Auf Lesungen rumzuhängen, das war nicht unser Ding", sagt Marquardt. "Lieber sind wir auf Konzerte gegangen oder haben unsere Performances gemacht."


"Lust an den morbiden Orten"


Oder man durchstreifte die Stadt auf der Suche nach morbiden Schauplätzen, um mit der Kamera Bilder zu produzieren, die teilweise noch heute seltsam entkoppelt von allem erscheinen, woran man sie als Dokumente ihrer Zeit identifizieren könnte. Der bevorzugten Inszenierung seiner Modelle in leer stehenden Häusern oder auf Friedhöfen, ebenso wie die Arbeit mit Kleinbildkamera und ohne Kunstlicht ist Marquardt bis heute treu geblieben, nur sind seine Subjekte im Gegensatz zu früher meist großflächig tätowiert. "In der DDR hing die Lust an den morbiden Orten vielleicht damit zusammen, dass man nicht reisen konnte. Damals ging man in Abbruchhäuser, wo man sich zumindest in Gedanken, Träumen und Wünschen auf eine Reise begeben konnte." Heute gehört der Ruinenchic zur ästhetischen Signatur Marquardts, dessen Bildern trotz aller theatralischen Härte immer ein Moment slapstickhafter Übertreibung innewohnt.

Auch Marquardts Fotografien wurden schon im Berghain ausgestellt, sie fanden ihren Weg auf Flyer und Plattencover. Doch für ihn ist der Club vor allem ein Ort der Produktion. Seit Jahren nutzt er einen leer stehenden Teil des Gebäudes für seine aufwendigen Inszenierungen, die er zusammen mit seinem Berghain-Kollegen, dem Szenografen und Stylisten Viron Erol Vert, erarbeitet. Zuletzt entstand eine Hommage an Rainer Werner Fassbinder. Genauso wie Nathans oder Brandenburgs Installationen beweisen diese Arbeiten, dass Kunst nie im luftleeren Raum entsteht, sondern unter ganz konkreten Umständen, so verschieden sie auch sein mögen. Blind ist derjenige, der hier nur die Dekoration für eine extreme Art zu feiern sieht.


Dieser Artikel erschien im Oktober 2009 in Art – Das Kunstmagazin