Ob jung oder alt – die Lust zu musizieren verspüren viele ein Leben lang. Das zeigen Zahlen des Verbands deutscher Musikschulen (VdM): Rund 1,5 Millionen Menschen besuchen derzeit Kurse an Musikschulen in Deutschland. Die jüngsten Schülerinnen und Schüler sind noch keine fünf Jahre alt, die ältesten weit über 60. Und besonders im Bereich der Seniorinnen und Senioren verzeichnet der VdM „stetige Zuwächse“. Aber wie ist es, als Erwachsener ein Instrument neu zu lernen? Muss man dafür zwingend Noten lesen können? Aus Sicht von Pianist Herbert Wiedemann ist Notenkenntnis keine zwingende Voraussetzung. Ganz im Gegenteil: „Es kann sogar ein Vorteil sein, wenn Erwachsene keine Noten lesen können“, sagt er. „Dann lernen sie besser, nach Gehör zu spielen.“
Wer sich eher an der klassischen Klavierschule orientiere, laufe Gefahr, Noten nach dem Muster falsch-richtig abzuspielen, ohne die harmonischen Zusammenhänge verstanden zu haben, weiß der ehemalige Musikprofessor für Klavier mit Schwerpunkt Improvisation an der Universität der Künste in Berlin aus Erfahrung. „Wenn Erwachsene ausschließlich nach Noten lernen, klingt es am Ende hölzern“, sagt er. „Wenn sie aber auch aktiv zuhören und eine Melodie dazu im Kopf haben, klingt es in der Regel musikalischer.“
Abenteuer, ohne Noten spielen zu lernen
Außerdem sei Unterricht nach dieser Methode besonders motivierend, weil die Schülerinnen und Schüler nach kurzer Zeit schon ein Lied spielen könnten. „Bei vielen Liedern aus den Bereichen Folk, Pop, Jazz und Blues genügen schon einige Akkorde, die sich sowohl haptisch als auch visuell gut vermitteln lassen, für eine ansprechende Begleitung“, erläutert Wiedemann, der heute privat Schüler zwischen 20 und 80 Jahren am Klavier unterrichtet. „Die rhythmische Gestaltung ist natürlich ebenso unabdingbar. Im Unterricht vermittle ich diese durch die Einbeziehung von afrikanischen Trommeln, zum Beispiel mit Djemben (afrikanische Bechertrommel, Anm. d. Red.) und mit Body Percussion.“
Ideal sei es, wenn die Erwachsenen die gespielte Melodie mitsängen. „Auf diese Weise ergeben sich Betonungen, Bindungen und kleine Zäsuren durch das Atmen auf natürliche Weise“, so Wiedemann. „Harmonien und kompositorische Aspekte vermittle ich dann anhand der Musik, nicht theoretisch. Auf diese Weise erlernen Erwachsene bald ein Repertoire an Stücken, das sie auswendig spielen können.“
Ohne Noten spielen zu lernen sei auch immer ein Abenteuer, weiß Wiedemann. „Aber in der Regel funktioniert es bei Erwachsenen sehr gut.“ Erst noch Noten lernen zu müssen sei unnötig frustrierend für viele. Daher könne man, wenn es nicht unbedingt sein müsse, auch darauf verzichten.
Erwachsene lernen anders
Ob es notwendig ist, Noten zu lernen, hängt in erster Linie davon ab, welches Ziel man verfolgt. „Wenn man in der Feuerwehrkapelle oder in einem anderen Orchester spielen will, geht das in der Regel nicht ohne Notenkenntnis“, sagt Reinhild Spiekermann, Professorin für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik in Detmold. Es gebe zwar auch Improvisationsorchester, aber in den meisten Gruppen müsse man Noten lesen lernen.
Neues zu lernen ist für Erwachsene schwieriger als für Kinder. Das liegt unter anderem daran, dass Kinder noch kein Vorwissen mitbringen, Erwachsene dagegen an Gelerntes anknüpfen. „Bei Erwachsenen spricht man vom Anschlusslernen“, so die Musikprofessorin. „Das, was man bereits kennt, wird besonders gut aufgenommen. Völlig neue Erfahrungen dagegen sind schwieriger zu integrieren.“
Die Lernangebote von Musiklehrern oder -lehrerinnen könnten zum bisherigen Setting passen – oder eben auch nicht. „Wenn ein Erwachsener einen Lehrer oder eine Lehrerin gefunden hat, bei dem es passt, kann man von Glück sprechen“, sagt Spiekermann. Denn die Ansprache schließe zufällig an dem an, was er schon kenne. Daher dauere es bei Erwachsenen länger, etwas Neues zu lernen, als bei Kindern. Dafür sei aber die Zeit, die erwachsene Schülerinnen und Schüler in das Instrumentlernen stecken, deutlich höher. „Dadurch kompensieren sie, dass bestimmte Lernvorgänge langsamer laufen“, führt die Musikpädagogin aus.
Von schlechten Erfahrungen befreien
Das Lernen von Erwachsenen und Kindern unterscheidet sich grundsätzlich. Die Selbstmotivation Erwachsener ist zum Beispiel oft höher als bei Kindern, weil sie sich selbstbestimmter für das Instrumentlernen entscheiden. „Erwachsene suchen sich ihr neues Hobby in der Regel sehr bewusst aus, wollen Zeit investieren und damit gezielt ihr Leben bereichern“, sagt Spiekermann.
Auch wollen sich ältere Erwachsene häufig von schlechten Lernerfahrungen ihrer Jugend befreien, weiß Spiekermann. „Der Musikunterricht war früher oft sehr verschult und theoretisch, einige mussten trotz Stimmbruch vor der Klasse singen“, berichtet die Musikpädagogin. „Heute wechseln sie den Bereich. Wer früher Geige gespielt hat, will jetzt zum Beispiel singen lernen. Damit umgeht man auch das Problem, an vorheriges Wissen und negative Emotionen anknüpfen zu müssen.“
Auch der Zugang Erwachsener sei anders. Nicht zuletzt deshalb, weil besonders ältere Erwachsene mitunter körperlich eingeschränkt sind: „Man braucht den Kopf, um die Musik kognitiv zu erfassen, das Herz, um sie zu fühlen, aber das Entscheidende ist die Hand“, sagt Spiekermann. „Denn das Fühlen nützt einem nichts, wenn man es nicht greifen kann.“ Dieser eher kognitive Zugang sei auch ein Vorteil, weil Erwachsene theoretische Zusammenhänge schneller verstehen würden. Nur der Weg vom Kopf in die Hand sei eben manchmal zu lang, und das mache es mühsamer. „Aber auch das Gehirn eines älteren Menschen kann immer noch lernen. Gute Lehrer wissen das und finden eine passende Strategie“, ist die Musikpädagogin überzeugt.
Instrument lernen ist „Wahnsinnsbenefit“
Und der Aufwand lohne sich enorm: „Viele sagen, dass ihnen das Musizieren körperlich und gesundheitlich guttut, manche kommen dabei zur Ruhe oder ziehen viel daraus, ihr Hobby mit anderen teilen zu können und beispielsweise auf Freizeiten zu fahren“, erzählt Spiekermann. Man nehme sein Leben aktiv in die Hand, und das sei „ein Wahnsinnsbenefit“.
Wer ein Instrument lernen möchte, dem rät Spiekermann, auf Empfehlungen anderer zu hören. „Häufig haben die kommunalen Musikschulen auch ein gutes Angebot. Man muss es ausprobieren – und sich nicht scheuen, den Lehrer zu wechseln, wenn es nicht passt.“
Welches Instrument man lernt, solle man von der persönlichen Präferenz abhängig machen. „Wenn Sie mit 80 Jahren noch Oboe lernen wollen, ist das nicht so ratsam, aber es gibt wenige Instrumente, die nicht geeignet sind“, so Spiekermann. „Nehmen Sie eins, das Sie schon immer einmal lernen wollten.“
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