Nebel liegt über den Bäumen, auf dem See und in den Bergen. Als würde sich die Realität langsam in Licht auflösen, so sehen manche der Schwarz-Weiß-Fotos aus, die der Künstler Erwin Olaf eigens für die Kunsthalle München in den bayerischen und österreichischen Alpen aufgenommen hat. Die Landschaft mächtig und erhaben, wunderschön und vergänglich, wie bei den deutschen Romantikern. Die Menschen darin klein und staunend, ja - und gleichzeitig so divers wie in heutigen Großstädten. Der Wald als globales Dorf von Romantikern, Aussteigern und Geflüchteten. Ist das eine Utopie? Ein Vorschlag? Eine Kritik? "Die ganze Szene hat zu tun mit unserem heutigen Zustand in der Welt: Wir reisen viel, wir sind überall. Wir schaffen das! Schaffen wir das?", sagt der niederländische Künstler Erwin Olaf zu seiner Foto-Serie "Im Wald". Genau erklären möchte er die Motive nicht, so viel aber sagt er: "Über die ganze Welt gehen wir und das ist zu dekadent. Aber das ist eine Realität, mit der wir leben. Und ich finde auch, wir dürfen überall sein, aber wir sollen nachdenken über die Konsequenzen. Das ist ein großes Problem für die Natur und deswegen für die Menschheit."
Penisse, Brüste, Fettleibige und DragqueensDie neusten Arbeiten von Erwin Olaf sind wahrscheinlich seine schönsten und zugleich die traurigsten. Es sind seine ersten Landschaftsfotografien, denn in den fast 40 Jahren seines künstlerischen Schaffens hat er, der auch immer als Auftragsfotograf gearbeitet hat, das Studio nur selten verlassen, anfangs gar nicht. Davon zeugt sein Frühwerk, das größtenteils aus Porträts und Akt-Fotografien besteht. Der junge Olaf ist inspiriert von der Party- und Schwulen-Szene der 80er und 90er, vom legendären Robert Mapplethorpe. Er fotografiert in Squares - in Quadraten - und natürlich in Schwarz-Weiß. Penisse, Brüste, Fettleibige, Dragqueens, sich selbst und Freunde nackt und in aufreizender Pose. Sein Foto "Joy" von 1985, das einen jungen Mann mit überschäumender Champagner-Flasche vor dem Glied zeigt, ist bis heute eine Ikone der LGBTQ-Bewegung. "Ich war toll im Nachtleben, in Bars und Clubs, da fotografierte ich auch, aber die Fotos waren ‚shallow', untief, aber die Leute fand ich so interessant und dann habe ich sie in mein Studio eingeladen." Die Serie "Chessman", in der er die Akte noch provokanter ausstellt und mit mittelalterlichen, martialischen Kostümen ausstaffiert, ist vielleicht seine Beste. Bis jetzt.
In den 2000ern verändert Erwin Olaf dann seinen Stil radikal und wendet sich der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft zu. In den Serien "Rain", "Hope" und "Grief" stehen gutbürgerlich aussehende Menschen verloren in ihren gutbürgerlich eingerichteten Wohnungen und Häusern herum. Man denkt an Edward Hopper - und erkennt den Fotografen Olaf kaum wieder, der das Kino als Hauptinspirationsquelle für diese Bilder nennt: "Die Film- und Traumindustrie. Und das hat die Malerei auch, da kann man träumen und das hat auch klassische Musik. Fotografie hat oft, dass das nicht geschieht. Das ist so konkret. Man denkt oft wenn man ein Fotobild sieht, das ist die Wahrheit, aber das finde ich umstritten, weil es ist auch nur ein Ausschnitt, eine Auffassung von der Realität."
Am besten sind seine AkteWie Filmstills funktioniert auch die Trilogie "Berlin", "Shanghai", "Palm Springs", die formal zwar perfekt ausgeführt ist, inhaltlich aber kühl und wenig greifbar erscheint. Hier muss man an den Werbe- und Auftragsfotografen Olaf denken, der genau weiß, wie er Menschen und Orte in Szene zu setzen hat, aber sich anscheinend nicht immer sicher ist, was er eigentlich erzählen möchte. Das gilt auch für eine Serie, die unter dem Eindruck der Corona-Krise entstanden ist und den Künstler als traurigen Clown im Supermarkt zeigt. Man tut sich bei diesen Bildern schwer, unter die Oberfläche zu blicken.
Bei den neusten Landschafts-Inszenierungen gelingt Olaf das Erzählen dagegen wieder - und sowieso immer dort, wo er sich dem menschlichen Körper zuwendet. Dann entsteht ein Knistern, ein besonderer Moment - und man fragt sich in der Ausstellung immer wieder, was wohl passiert wäre, wenn Olaf sein Frühwerk kontinuierlich weiterentwickelt hätte, statt sich umzuorientieren und neuerdings auch mit Video und Skulptur zu experimentieren.
Man hätte dann wohl nicht so lange auf seine erste große Einzelausstellung in Deutschland warten müssen. Einen Besuch jetzt ist sie trotzdem wert.