Vom Fußballklub über den Porno bis zum Politiker: Alles muss heute authentisch sein. Dabei ist die Sehnsucht nach Echtheit kaum mehr als ein trügerischer Unterdrückungsmechanismus.
Die Löwen sind zurück. Im Stadion an der Grünwalder Straße. An der Kreuzung zur Tegernseer Landstraße. Wie schön das alles klingt. So heimatverbunden. So idyllisch. So authentisch. Ganz anders als die alte Adresse: Allianz Arena, Werner-Heisenberg-Allee 25. Wo jetzt nur noch die fiesen global player vom FC Bayern spielen. Wenn sie nicht gerade in China unterwegs sind, um neue Absatzmärkte für ihre Trikots, Schals und Waschbeckenstöpsel ("Der Hingucker für alle handelsüblichen Waschbecken") zu erschließen. Ganz anders in Giesing, bei den Löwen von 1860 München, wo man jetzt wieder im bislang nur sanft gentrifizierten Wirtshaus in Hörweite des Fußballstadions sitzt.
Mit ihrem Auszug aus der Fröttmaninger Arena zurück ins ursprüngliche Biotop haben die Löwen den Authentizitätsstempel bekommen, das Bio-Siegel des gesellschaftlichen Diskurses. Das ist einiges wert in unserer Zeit. Denn wir leben in einer Gesellschaft des Authentizitätskults. Wir fetischisieren das Echte, wir sehnen uns nach Ursprünglichkeit, nach den guten, wahren, einfachen Dingen. Vom Olivenöl aus dem kleinen Hain am Gardasee über den verwackelten Amateurporno bis zum Politiker. Was uns nicht authentisch erscheint, taugt auch nicht. Authentizität ist zur Messgröße für ein gutes Leben geworden.
Authentizität ist heute ein Gütesiegel für Produkte, eine WährungAllein, Authentizität ist eine Illusion, ein leerer Begriff, der weder für den Diskurs noch zur Lebensmaxime taugt, weil er sich an allen Ecken auflöst, wenn man ihn ein bisschen beansprucht. Was genau soll Authentizität sein? Ein anderes Wort für Echtheit? Und was ist eigentlich echt? Dieses Dilemma ist bekannt und in vielen Debattenbeiträgen diskutiert. Viel interessanter ist jedoch die Frage, was die Sucht nach Authentizität mit unserer Gesellschaft macht.
Karriereratgeber und Selbsthilfebücher verbreiten das Mantra: Sei authentisch. Sei du selbst. Sei ehrlich! Dann kommst du voran im Beruf, dann steigst du auf, dann klappt das mit den Beziehungen und dem Glück. Auf der Suche nach Ursachen für diesen Drang zum Ursprünglichen landet man zwangsläufig bei Karl Marx. Der stellte die Theorie auf, dass der Kapitalismus und seine auf Profitmaximierung ausgelegte Produktionsweise den Menschen entfremdet - vom Produkt seiner Arbeit und auch von sich selbst. Diese Vorstellung hält bis heute an.
Das spätkapitalistische Ich ist ein fluides Subjekt. Wir haben unsere Identität aufgeweicht und aufgelöst. Ich bin ich. Ich kann aber auch ganz schnell ein anderer sein. Ich bin heute nicht mehr Journalist. Ich arbeite gerade als Journalist. Ich bin kein Münchner, ich lebe seit fünf Jahren in München. Halt und Identität in unseren flexiblen Zeiten beziehen wir aus anderen Quellen. Aus all den echten, ehrlichen und authentischen Dingen, die wir tun. Und mit denen wir uns umgeben.
Authentizität, das ist ein Gütesiegel für Produkte, die man uns verkaufen will. Authentizität, das ist heute eine Währung. Mit ihr lässt sich im kapitalistischen Warenmarkt der Wert einer Sache bestimmen. Je authentischer, desto besser. Das gilt für Butter genauso wie für Gangsterrapper. Die Butter von der hochalmgrasfressenden Bergbauernkuh schlägt das Discounterprodukt. Und der straßengeschulte Junge aus dem Problemviertel schlägt das rappende Mittelstandkind.
Es muss nun aber keineswegs so sein, dass die Butter von der Bergbauernkuh tatsächlich in traditioneller Bergbauernweise hergestellt und mit der Holzkarre ins Tal befördert wurde. Es reicht schon die Abbildung auf der Butterpackung von der Kuh, dem saftigen Gras, dem Butterfass und der Holzkarre, damit unser Authentizitätsreflex ausgelöst wird. Die Löwen sind immer noch eine Kommanditgesellschaft auf Aktien mit einem jordanischen Investor - auch wenn sie mittlerweile wieder in der alten Heimat Giesing spielen. Die Menschen wissen das: und stehen trotzdem Schlange.
Original