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Der Gewinnertyp

Bild: imago/Sven Simon

Schon als Kind in Bad Belzig zeigte Fabian Wiede, dass er das Potenzial zum ganz großen Handballer hat. Nun steht der Spieler der Füchse Berlin mit Deutschland im WM-Halbfinale. Und er könnte wieder ganz wichtig werden. Von Johannes Mohren

Die Geschichte liegt mehr als ein Jahrzehnt zurück. Fabian Wiede ist zehn, vielleicht elf Jahre alt, und spielt Handball beim MBSV Belzig. Eines Tages trainiert er in der Mannschaft seines großen Bruders mit, spielt gegen Jungs, die vier oder fünf Jahre älter sind als er selbst. Trotzdem gewinnt er. "Jetzt holt euch alle mal von Fabi ein Autogramm", sagt jemand nach dem Training. "Der wird mal Nationalspieler."

Über diesen Spruch sei sie damals sauer gewesen, erinnert sich Katrin Wiede. Die Mutter des kleinen Fabian war selbst Handballerin und trainierte ihn in den ersten Jahren. Auch sie sah seine besonderen Qualitäten. "Aber Sie können sich vorstellen, wie Fabi auf dieser Aussage geritten ist." Der Junge sei ohnehin ein "kleiner Chaot" gewesen.

Heute muss sie darüber schmunzeln. Wenn ihr Sohn am Freitag (20:30 Uhr, live in der ARD) im WM-Halbfinale gegen Norwegen aufläuft, ist es schon sein 74. Länderspiel. Er wird dann wieder im Fokus stehen: Fabian Wiede, der Mann mit den Matchwinner-Qualitäten.

Der Druck ist hoch, die Wurfposition schlecht... und der Ball im Tor

Spätestens seit dem Hauptrunden-Spiel gegen Kroation ist die Heim-WM auch das Turnier des Fabian Wiede. Er selbst würde das wohl nie so sagen, Wiede ist ein Mann der leisen Töne. "Er ist keiner, der sich um die Interviews reißt", sagt seine Mutter. "Er guckt eher mal nach einem Hinterausgang."

Auf dem Feld ist das ganz anders, da übernimmt der 24-Jährige Verantwortung - auch und gerade dann, wenn es brenzlig wird. So wie beim Spiel gegen die Kroaten, als für das deutsche Team Mitte der zweiten Halbzeit wenig geht. Aus einer 18:15-Führung wird binnen weniger Minuten ein knapper Rückstand. Die vorzeitige Halbfinal-Qualifikation wackelt. Deutschland ist in Ballbesitz, der Schiedsrichter zeigt bereits Zeitspiel an, jetzt muss der Abschluss kommen.

Dann bekommt Wiede den Ball. Seine Position? Ungünstig, die kroatische Abwehr steht. Doch Wiede hämmert den Ball trotzdem in den Winkel. Ausgleich.

Am Ende gewinnt Deutschland. Fabian Wiede wird vor knapp 20.000 Zuschauern in der Arena in Köln als Spieler des Spiels ausgezeichnet. Es ist nur einer von vielen Glanzmomenten des Rückraumspielers der Füchse Berlin. Sechs Tore macht Wiede insgesamt gegen Kroatien, dazu kommen viele wichtige Anspiele. Das Team überschüttet ihn nach der Partie mit Lob, die Mannschaftskameraden sprechen ihm einen "Löwenanteil am Sieg" zu, attestieren ihm "unfassbare Cleverness".

"Er ist genau der Mann für solche Spiele", sagt auch Bob Hanning, Vizepräsident des Deutschen Handball-Bundes (DHB) und Manager der Füchse Berlin.

"Typische Teenager-Probleme"

Hanning hat Wiede als Spieler wohl am meisten geprägt. In Berlin, bei den Füchsen, ist er zum Gewinnertypen geworden. Mit 15 Jahren kam der Linkshänder in die Hauptstadt. Hanning wollte den Teenager, der damals beim VfL Potsdam am Handball-Stützpunkt spielte, für den Rückraum. Aber der Junge wollte zunächst nicht, in der brandenburgischen Landeshauptstadt lief es eigentlich ganz gut für ihn. "Aber dann hat Fabi gesehen, wie sich die Jungs in Berlin weiterentwickeln" erzählt Katrin Wiede, "und dass er zusehends stagniert."

Wiede selbst hat inzwischen oft gesagt, es sei die wichtigste Entscheidung seines Lebens gewesen, zu den Füchsen zu gehen. "Er wäre nicht da, wo er jetzt ist, wenn er den Schritt nicht gegangen wäre", betont auch seine Mutter. "Typische Teenager-Probleme", hätten sich damals gezeigt, Wiede fing zum Beispiel an zu rauchen. Aber Bob Hanning forderte den jungen Wiede heraus, brachte ihn an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Vier Jahre in Folge wurde er Deutscher Meister, einmal mit der B- und dreimal mit der A-Jugend. Hanning habe ihren Sohn zum Profi gemacht, sagt Katrin Wiede, "mit einer geilen Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche".

Bad Belzig fiebert mit

Doch es gab auch Rückschläge in der Karriere des Fabian Wiede. 2017 kostete ihn eine schwere Schulterverletzung die WM-Teilnahme. 2018 wurde er von Bundestrainer Christian Prokop aus dem endgültigen Aufgebot für die Europameisterschaft gestrichen.

Ein Jahr später ist Wiede für das DHB-Team wichtiger denn je: mit seiner Mentalität, seinem Mut und mit seiner Fähigkeit, auch in Drucksituationen zu Hochform aufzulaufen. Bei den Füchsen ist er längst Führungsspieler, im Nationalteam wächst er gerade in Spielen wie gegen Kroatien in diese Rolle hinein. Nach der schweren Verletzung von Spielmacher Martin Strobel dürfte seine sportliche Bedeutung nochmal größer geworden sein.

"Da würde jedes Blutdruckgerät versagen"

In Bad Belzig und beim MBSV sind sie stolz, zum Halbfinale wird es Public Viewing geben. Katrin Wiede ist dann natürlich auch dabei. Oft denke sie in diesen Tagen an die Zeit zurück, als sie ihren Sohn noch selbst trainierte. "Das ist ganz eigenartig", erzählt sie, wenn einem der eigene Sohn von den Titelseiten aller Sport-Zeitschriften entgegenblickt. "Das ist ein total überragendes Gefühl. Einfach nur Stolz und Freude."

Drei Spiele hat Katrin Wiede bereits in der Halle erlebt, sonst saß sie vor dem Fernseher. "Die Dramatik ist kaum auszuhalten. Ich bin unheimlich angespannt", sagt sie. "Da würde wohl jedes Blutdruckgerät versagen."

Der extreme Nervenkitzel wird ihr wohl auch im Halbfinalspiel gegen Norwegen nicht erspart bleiben. Es wieder mit großer Wahrscheinlichkeit wieder eines dieser engen Spiele. Eines, in dem die Mannschaft ihren Sohn Fabian braucht, um erfolgreich zu sein. Gelingt es, müsste er wohl noch ein paar Autogramme mehr schreiben.


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