Wer glaubt zu wissen, wie die US-Bevölkerung tickt, sollte die eigenen Gewissheiten nochmal überdenken. Deutsche Klischees tun den Menschen Unrecht.
Wollen die US-Amerikaner:innen reaktionäre, rechtsextreme Politik? Nein, die überwiegende Mehrheit von ihnen nicht. Und die allermeisten Menschen in den USA sind auch nicht verrückt, um es gleich vorwegzunehmen. Es sagt schon viel darüber aus, welches Bild in Deutschland über die USA besteht, wenn im Medienecho auch Überraschung darüber widerhallt, dass im konservativen Bundesstaat Kansas 59 Prozent bei einem Referendum für das Recht auf Abtreibung stimmten.
Woher soll man auch wissen, was die Menschen jenseits des Atlantiks denken, wenn Umfragen in der US-Berichterstattung nur zu den Wahlen herangezogen werden, wenn es um Demokraten gegen Republikaner geht? Befragungen zeigen immer wieder, dass es Mehrheiten für sozialpolitische Maßnahmen gibt: Eine gesetzliche Krankenversicherung wünschen sich 63 Prozent; gesetzlich vorgesehene, bezahlte Elternzeit und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, selbst wenn dies eine geringe Steuererhöhung bedeuten würde, befürworten 69 Prozent; Steuererhöhungen für Reiche wollen 71 Prozent und 65 Prozent sind dafür, große Unternehmen höher zu besteuern. Auch das Recht auf Abtreibung befürworten rund zwei Drittel der Menschen in den USA.
Republikaner sind nicht mehrheitsfähigWarum setzt sich neoliberale bis rechte Politik in den USA dennoch fast immer durch? Die Gründe sind das US-Wahlsystem, die spendenbasierte, private Parteien- und Wahlkampffinanzierung und die US-Medienlandschaft. Das Wahlsystem der Vereinigten Staaten ist darauf ausgelegt, dünn besiedelte ländliche Bundesstaaten im Gegensatz zu den städtischen Ballungszentren an den Küsten zu bevorzugen. Dazu kommen der manipulative Zuschnitt von Wahlkreisen, das sogenannte Gerrymandering, und Maßnahmen zur Wählerunterdrückung. Diese halten insbesondere Minderheiten und arme Menschen von der Wahlurne fern.
Die Partei, die vom unfairen Wahlsystem und der - oftmals völlig legalen - Manipulation deutlich mehr profitiert, sind die Republikaner. Die letzten beiden republikanischen US-Präsidenten, Donald Trump und George W. Bush erhielten insgesamt weniger Stimmen als ihre demokratischen Kontrahent:innen, Hillary Clinton und Al Gore. Wäre es nach dem Willen der Mehrheit gegangen und nicht nach dem Wahlleutekollegium, hätte seit 2001 kein Republikaner mehr die USA regiert. Um es zugespitzt zu sagen - das US-Wahlsystem ist verrückt, nicht die Amerikaner:innen.
Nicht nur, dass Donald Trump nicht von der Mehrheit der Wahlberechtigten gewählt wurde, die Wahlbeteiligung lag bei der Präsidentschaftswahl 2016 bei nur 54,8 Prozent. Von den abgegebenen Stimmen entfielen lediglich 46,2 Prozent auf den Rechtspopulisten. Die Annahme, „die Menschen in den USA wollten Donald Trump" und seine Politik ist also falsch. Nur insgesamt rund ein Viertel der Wahlberechtigten stimmte für Trump.
In der US-Politik ist der Spender KönigEin weiterer Faktor dafür, dass die Politik, die sich die Mehrheit der Menschen in den USA wünschen, nicht umgesetzt wird, ist die Art und Weise, wie die Parteien und einzelne Politiker:innen finanziert werden. Wie vieles andere auch, ist die Politik in den USA privatisiert. Die Spenden an die Parteien oder Amtsinhaber:innen oder Kandidat:innen kommen weit überwiegend aus der Wirtschaft oder von reichen Menschen. Seit dem Supreme-Court-Urteil „Citizens United" von 2010 ist diese Art der Finanzierung fast ohne Einschränkungen legal und die Zahlung von Spenden in der Politik gilt als Ausdruck der freien Meinungsäußerung.
Selbstverständlich haben Konzerne oder Reiche nicht das geringste Interesse an Steuererhöhungen, um den Sozialstaat auszubauen. Auch ziehen sie Deregulierung einer angemessenen Regelung des Marktes vor. Dadurch kommt es zu Phänomenen wie etwa privatisierten Gefängnissen, die mit Gewinnerzielungsabsicht geführt werden. Damit diese rentabel sind, müssen sie stets voll sein. Entsprechende Gesetzesvorlagen erarbeitet der Gefängnisindustriekomplex, Spenden folgen und drakonische Strafgesetze werden bundesweit oder in einzelnen Bundesstaaten erlassen. Die Folge: Die USA haben die höchste Inhaftierungsrate der Welt, weil selbst kleine Vergehen oftmals mit Haftstrafen geahndet werden - insbesondere, wenn die verurteilte Person schwarz oder arm ist.
US-Medien sind dereguliert - dank Ronald ReaganEin weiterer Grund, weshalb der politische Diskurs in den USA innerhalb der letzten Jahre immer aufgeheizter erscheint, sind die US-Medien. Natürlich braucht eine gesunde Demokratie eine Medienlandschaft, die das gesamte politische Meinungsspektrum abbildet. Aber die US-Medien sind wie die US-Wirtschaft - weitgehend dereguliert. Während die Leitmedien New York Times, Washington Post und CNN den Demokraten nahestehen, befindet sich Fox News klar im Republikaner-Lager. Der Sender war nur möglich, weil die Fairness Doktrin der Bundeskommunikationskommission 1987 vom damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan gekippt wurde. Faire, ausgewogene Berichterstattung war fortan passé - und 1996 ging Fox News auf Sendung.
Fox News und andere rechte US-Medien wie Newsmax, One America News Network (OANN) oder Breitbart News haben mit Nachrichten nichts zu tun. Es handelt sich um extrem rechte Propagandakanäle, die nachweislich Falschinformationen verbreiten. Fox News ist nicht etwa ein rechter Spartenkanal, sondern seit Jahren der quotenstärkste TV-Sender der USA. Bei Fox News wird gelogen und gehetzt - gegen Demokraten, gegen Minderheiten und gegen Andersdenkende. Armen Menschen wird dort schon mal der Ratschlag gegeben, sie sollten einfach mehr arbeiten, statt sich zu beschweren.
Rechte Hetze und Lügen auf Fox News können tödliche Folgen habenDie Hetze und die Fake-News von Fox News & Co. haben gesellschaftliche Konsequenzen. Nichts gilt mehr als gesicherte Faktenbasis, alles wird zur Meinung deklariert. Die ehemalige Trump-Beraterin Kellyanne Conway sprach einst von „alternativen Fakten". Hat Donald Trump nun die Wahl gegen Joe Biden verloren oder stimmt die Lüge vom „massiven Wahlbetrug"? Oftmals werden infame Aussagen auf Fox News in vermeintlich harmlose Fragen gekleidet. Dies gehört zum bevorzugten Stilmittel von Fox News' beliebtestem TV-Demagogen Tucker Carlson.
Sein Vorgänger war Bill O'Reilly, der Tucker Carlson in nichts nachstand und dessen Hetze mindestens einmal tödlich endete. O'Reilly diffamierte zwischen 2005 und 2009 immer wieder den US-Arzt George Tiller, der auf Schwangerschaftsabbrüche spezialisiert war. Der rechte Moderator bezeichnete Tiller in seiner Sendung wiederholt als "Tiller the Baby Killer" und verglich ihn mit Mao, Hitler und Stalin. Während eines Kirchenbesuchs 2009 wurde George Tiller dann von einem Mann erschossen. Für Bill O'Reilly hatte dies keine Konsequenzen.
Er verlor erst 2017 seinen Job bei Fox News, nachdem ihn sechs Frauen der sexuellen Belästigung beschuldigten. Aber diese Tatsache war nicht etwa der Grund dafür, dass Bill O'Reilly gefeuert wurde, sondern finanzielle Interessen des rechten Senders: über 50 Werbekunden boykottierten aufgrund der Vorwürfe seine Sendung. Über die Jahre hatte der Sender an fünf Frauen insgesamt 13 Millionen Dollar Schweigegeld gezahlt.
Alex Jones kommen Verschwörungslügen teuer zu stehenZahlen muss jetzt auch eine weitere rechte Medienfigur - Alex Jones. Er wurde zu mehr als 49 Millionen Dollar Schadensersatz im Rahmen eines Zivilprozesses verurteilt, weil er über Jahre hinweg das Schusswaffenmassaker 2012 an der Sandy-Hook-Grundschule geleugnet hatte. Dadurch, dass offenbar viele bereit sind, Alex Jones' bizarre Lügen zu glauben, geraten immer wieder Menschen in Lebensgefahr. Kein Verschwörungsmythos ist zu haarsträubend für den 48-Jährigen. Seine Nähe zu Donald Trump seit 2015 ließ sein Verschwörungspublikum wissen: Es gibt jetzt einen Politiker, der ihnen nahesteht. Mit Trump, selbst Anhänger diverser Schwurbellügen, erhielt derartiges Gedankengut endgültig Einzug in die US-Politik.
Seit Anfang 2021 vertritt mit Marjorie Taylor Greene eine Anhängerin des rechten Verschwörungsmythos QAnon einen Wahlbezirk in Georgia im US-Kongress. Und auch für die Midterm-Wahlen am 8. November könnten wichtige Ämter in den wahlentscheidenden Swing States Arizona, Michigan, Nevada und Pennsylvania an Anhänger:innen von Lügen wie dem angeblichen Wahlbetrug 2020 gehen. Dabei handelt es sich um Bundesstaaten, die für Joe Bidens Wahlsieg entscheidend waren und sicherlich auch bei der Präsidentschaftswahl 2024 eine wichtige Rolle spielen werden.
Sollte sich die von Fox News und anderen rechten Medien radikalisierte republikanische Wählerschaft - eine laute, gefährliche Minderheit - in drei Monaten durchsetzen können, würde dies nicht nur zeigen, dass das US-Wahlsystem auf allen Ebenen abermals versagt hätte. Es würde auch bedeuten, dass die Strategie der Demokraten, die extremsten der rechtsextremen Kandidat:innen der Republikaner in den Vorwahlen zu unterstützen, weil sie vermeintlich leichter zu schlagen seien, verrückt war.