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Einer von 69: Der Fall Nasibullah S.

Einer von 69 Flüchtlingen, die im Juli nach Afghanistan ausgeflogen wurden, wurde wegen eines Verfahrensfehlers zurückgeholt. Nun soll er erneut abgeschoben werden. Eine Chronologie.

Nasibullah S. ist ein junger Mann, der Feinde hat. Neulich haben sie seine Familie wieder angerufen, hat ihm sein Bruder erzählt. Man wolle ihn treffen. Nasibullah hat aufgelegt. Weil er müde ist. Weil er nicht schlafen kann. Weil er nichts tun kann.

Seit Montag weiß Nasibullah, dass er erneut abgeschoben werden soll. Das Urteil sei "negativ" ausgefallen, steht in der knappen Email, die über sein Leben entscheidet, vielleicht über Leben und Tod.

Am 3. Juli 2018 wird seine Biografie zu einer Zeitungsmeldung: 69 Afghanen, witzelte der deutsche Innenminister Horst Seehofer, seien an seinem Geburtstag ausgewiesen worden. Sei so nicht bestellt gewesen.

Nasibullah ist einer der 69 Menschen, die im Flug von München nach Kabul saßen. Einer soll der Leibwächter des Oberterroristen Osama Bin Laden gewesen sein, einer hat sich kurz nach der Landung das Leben genommen.

Bei Nasibullah gab es Verfahrensfehler, deshalb bekam der 22-Jährige einige Wochen später ein Rückflugticket nach Deutschland.

Nasibullahs Abschiebung war damit eine von fünf unrechtmäßigen Abschiebungen seit Jahresbeginn. In einer Drucksache nimmt das Bundesamt für Migration und Flüchtinge (BAMF) Ende August dazu Stellung: „Die Bundesregierung hat in fünf der (…) Fälle eine umgehende Rückholung betrieben. In drei von diesen Fällen ist eine Rückholung bereits erfolgt und in zwei Fällen befindet sich das Rückholverfahren zurzeit noch in der Durchführung.

In zwei weiteren Fällen ist noch keine Entscheidung zur Rückholung getroffen worden." Beteiligt an der Rückführung – für die es keine standardisierte Prozedur gebe –  sind u.a. das Auswärtige Amt, die deutschen Auslandsvertretungen, die Innenministerien der Länder, die zuständigen Ausländerbehörden sowie die Internationale Organisation für Migration (IOM).

Im Jahr 2017 gab es insgesamt zwei illegale Abschiebungen. In den beiden Jahren davor war keine einzige unrechtmäßige Abschiebung verzeichnet worden.

„Diesen sprunghaften Anstieg führe ich darauf zurück, dass Abschiebungen momentan politisch gewollt sind“, sagt Nasibullahs Anwältin, die SPD-Bundestagsabgeordnete Sonja Steffen.

Streit beim Zuckerfest

Im Gerichtssaal in Greifswald verdichtet sich Nasibullahs Schicksal zu einem Aktenprotokoll: Ein Teil der Jugendlichen in seinem Dorf in der afghanischen Provinz Helmand habe sich den Taliban angeschlossen.

Beim Zuckerfest hätten die ihn dann als Spion der Regierung beschimpft und bedroht, während er mit Kumpels an einem Fluss gesessen habe.

Da seien sein Vater und sein Onkel auf Rat der Dorfältesten zu den Taliban gegangen, um zu sprechen.

Der Onkel war einige Tage später wieder zuhause, repetiert der Richter in sein Diktaphon. „Und Ihr Vater?“, fragt er. Übersetzungspause.

Zuhause im Flüchtlingsheim

Der Septemberhimmel drückt grau auf Mecklenburg-Vorpommern, zäh wälzen sich die Felder längs der Autobahn dahin, dann säumen Bäume die Straße zu beiden Seiten. Nach einigen Plattenbauten biegt der Asphaltweg ein. Zäune und Gitter schützen das Flüchtlingsheim.

Jenseits des Parkplatzes stehen halb verfallene Baracken. Autoreifen, Glasscherben und Holzlatten liegen zwischen den üppig behangenen Apfelbäumen auf dem Grundstück gegenüber. Die Scheiben der Nachbarhäuser sind zertrümmert, manche mit verwitterten Brettern vernagelt.

Nasibullahs Englisch ist gut. Manche Worte benutzt er auf Deutsch, „Gericht“, „Heim“, oder „Krankenpfleger“. „Alle suchen immer nach Fehlern“, sagt er. „Aber wer mit dieser Geschichte würde sich an genaue Daten erinnern?“

Im Sitzen schlafen

Sein Onkel hatte den Schlepper besorgt.

Es folgte eine zweimonatige Flucht über den Landweg bis nach Europa, in einer Gruppe von bis zu 80 Menschen, zunächst durch den Iran.

© Jana Schulze / Vorwärts
Die Fluchtroute von Nasibullah S. von Helmand bis Mecklenburg-Vorpommern

In Teheran verbrachte er etwa zwei Wochen. Dann ging es weiter in Richtung Türkei, wo sie nach etwa 20 Tagen ankommen. Nächtliche Märsche von bis zu 15 Stunden wechseln sich mit Bus- und Zugfahrten ab. „Manchmal waren wir zu zehnt in einem Auto.“

Zweimal greift sie in Bulgarien die Polizei auf und bringt sie in die Türkei zurück.  Beim dritten Mal gelangen sie mit etwa zwei Dutzend Personen nach Sofia, wo sie zunächst in einer Wohnung unterkommen, ein Zimmer, eine Küche. „Es war so eng, dass man sich zum Schlafen nicht hinlegen konnte“, erzählt Nasibullah. Zu Fuß, mit dem Auto und auf Pferden durchqueren sie Serbien, dann die Slowakei mit einem Bus, Österreich per Zug. Nach zwei Monaten dann, die Ankunft per Zug in Mannheim, wo sie registriert werden.

Nasibullah S. klingt müde. Seit seiner Ankunft in Deutschland vor drei Jahren hat er diese Geschichte oft erzählt, erst beim BAMF, wo er einen Asylantrag gestellt hat und wo, sagt er, Übersetzungsfehler zu Missverständnissen geführt hätten. Dann der Anwältin, die seine Abschiebung verhindern sollte.

Dann den Polizisten, die ihn am 3. Juli 2018 morgens um acht aus dem Heim geholt und zum Flughafen gebracht haben. Nasibullah habe auf das laufende Verfahren verwiesen, „aber sie haben gesagt: ‚Dir kann niemand helfen‘.“ Dann dem Mann von der International Organization of Migration, der ihn in Kabul empfangen hat. Und schließlich, am 5. September 2018, noch einmal vor dem Greifswalder Verwaltungsgericht.

Heimat Hellmand - Fluchtort Deutschland

„Und der Vater?“, fragt ihn der Richter in Greifswald erneut. Übersetzungspause. Nasibullah spricht leiser weiter. „Den haben sie tot auf den Vorplatz der Moschee gepackt.“

Protokolliert wird auch, wann welcher Drohbrief wie bei ihm eingegangen sei. Wann genau er die Whatsapp-Nachricht mit dem Video bekommen habe, auf dem sein Vater zusammengeschlagen würde. „Sieht man darauf, wie er stirbt?“ fragt der Richter. Nasibullah verneint, „nur, womit er gefoltert wird“, sagt er. „Ah“, macht der Richter, „womit denn?“ - „Mit Holzstöcken.“

Nasibullahs Vater wurde etwa 49 Jahre alt, so genau weiß er das nicht. Geburtstage werden in Afghanistan nicht gefeiert.


Chronologie des Falles Nasibullah S.

08. Februar 2017, Berlin

Der Asylantrag des heute 22-jährigen Afghanen Nasibullah S. wird von Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt mit der Begründung, es habe für ihn „innerstaatliche Fluchtalternativen“ gegeben.

31. Mai 2017, Kabul

Selbstmordattentat vor der deutschen Botschaft, 160 Tote. Vorübergehend werden – auch wegen der eingeschränkten Leistungsfähigkeit der Botschaft – nur noch Straftäter, Gefährder und Mitwirkungerweigerer aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Als Mitwirkungsverweigerer werden Personen bezeichnet, die ihre Identität nicht offenlegen.

31. Dezember 2017, Berlin

Ende 2017 sind 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Zahl der Flüchtlinge ist mit über 25 Millionen Menschen höher denn je, und knapp drei Millionen höher als im Vorjahr. Es ist der größte Anstieg der Flüchtlingszahlen innerhalb eines Jahres in der Geschichte des UNHCR, des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (seit 1951). Bei den Herkunftsländern führt Afghanistan mit 2,6 Millionen Menschen nach Syrien die Statistik an.

03. Juli 2018, München

Abschiebung von Nasibullah S. nach Afghanistan während des laufenden Klageverfahrens. Gegen acht Uhr holen ihn sieben Polizisten im Flüchtlingsheim in Mecklenburg-Vorpommern ab. Er fragt nach seiner Anwältin – „da haben sie gesagt: ‚Dir kann keiner helfen.‘“

Um 23:27 Uhr hebt der Flug in München ab. 51 der 69 Afghanen an Bord sind von Bayern abgeschoben worden. 15 der 69 Menschen sind vorbestraft, davon fünf der bayerischen Passagiere. Der Flug wird von der Bundespolizei begleitet.

Dazu heißt es aus dem BAMF: „Der Bund unterstützt die Länder (…) etwa bei der Koordination von Sammelabschiebungen oder der Rückführungsbegleitung auf dem Luftweg. Die Länder führen die Rückzuführenden zum jeweiligen Termin zum Flughafen zu. Dort erfolgt die Übernahme der Rückzuführenden durch die Bundespolizei. (…) Derzeit finden wöchentliche Fallkonferenzen „Charter“ (mit Vertretern des BMI, BAMF, der Bundespolizei und der 16 Länder, Anm. d. Red.) mit dem Ziel statt, die Auslastung der ausgewählten Charterflüge zu erhöhen." (Quelle: BAMF-Drucksache 19/3922, 22. August 2018)

04. Juli 2018, Kabul

Ankunft von Nasibullah S. im Hotel Spinzar, dessen Räumlichkeiten der „Lonely Planet“ als „trist, aber sauber“ bezeichnet. Der SPIEGEL schreibt "heruntergekommen".

08. Juli 2017, Kabul

Die Leiche des Passagiers Jamal Nasser Mahmodi wird in Zimmer 310 im 4. Stock des Hotel Spinzar gefunden. Er hatte sich erhängt.

10. Juli 2018, Berlin

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) stellt seinen Masterplan Migration vor. Das Dokument trägt das Datum vom 04. Juli 2018 – also dem Tag des Abschiebefluges. Bei der Presskonferenz sagt der Bundesinnenminister: „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69, das war von mir nicht so bestellt, Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bislang üblich war.“ Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft kritisieren die Entgleisung.

12. August 2018, München

Rückkehr von Nasibullah S. nach Deutschland und in seine ehemalige Flüchtlingsunterkunft in Mecklenburg-Vorpommern.

05. September 2018, Greifswald

Verhandlung von Nasibullah S. vor dem Verwaltungsgericht. Es geht um die Anerkennung als Flüchtling mit subsidiärem Schutz, hilfsweise um ein Abschiebeverbot.

17. September 2018

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald wird Nasibullah S. von seiner Anwaltskanzlei zugestellt. Es ist negativ.
Generell ist in Asylverfahren auch eine Berufung vor dem Oberverwaltungsgericht möglich. Die Anwältin von Nasibullah S. hat angekündigt, diesen Weg gehen zu wollen.