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Doch unter welchen Bedingungen könnte die Pandemie wirklich so harmlos ausgehen, dass sie - wie Streeck nahelegt - in der Todesstatistik im Rückblick aus dem Jahr 2021 gar nicht auffallen wird?
Der Kontrast zwischen den lapidaren Aussagen des Virologen und dem, was zeitgleich andere Experten für den Fall errechneten, dass das Virus sich einfach ausbreiten würde, könnte größer nicht sein. Am 19. März (und in einer aktualisierten Version am 21. März) legt die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie Szenarien vor, die in bunten Kurven eine dramatische Botschaft überbringen.
Würde es das Virus auch nur schaffen, dass jeder Infizierte zwei weitere Personen ansteckt, so wären ohne Gegenmaßnahmen bereits 100 Tage nach Beginn der Epidemie 4,2 Millionen Menschen in Deutschland infiziert. Je nach Anteil der schweren Krankheitsverläufe müssten 230.000 bis 1,2 Millionen Menschen zeitgleich auf einer Intensivstation behandelt werden - bei wenigen Zehntausend real verfügbaren Betten.
Das Robert-Koch-Institut kommt am 20. März mit ähnlichen Annahmen - jeder Infizierte steckt zwei weitere Menschen an - im schlimmsten Fall auf einen Peak von gut zehn Millionen Infizierten etwa im August und mehreren Hunderttausend Toten. Das Institut folgert: „Von jetzt an und in den nächsten Wochen sind maximale Anstrengungen erforderlich um die COVID-19-Epidemie in Deutschland zu verlangsamen, abzuflachen und letztlich die Zahl der Hospitalisierungen, intensivpflichtigen Patienten und Todesfälle zu minimieren."
Während sich die Bundesregierung und Robert-Koch-Institut darum bemühen, in der akuten Krisensituation bei der Bevölkerung Verständnis für die harten Auflagen zu schaffen, weil letztlich jede Stunde des Ausbreitungsgeschehens massiv über den weiteren Verlauf der Pandemie in Deutschland entscheidet, richtet Hendrik Streeck seinen Blick schon nach vorne.
Am 23. März verkündet Kanzlerin Merkel härtere Regeln für den Lockdown. Am selben Abend tritt Streeck in der ARD-Sendung „Hart, aber fair" von Frank Plasberg auf und verblüfft den Moderator mit einer bemerkenswerten Aussage: Das Land könne auch „zu gut" darin sein, die Infektionskurve abzuflachen.
„Ein Großteil der Bevölkerung wird sich infizieren"Zwei Mechanismen, sagt Streeck, wirkten gegeneinander: „Auf der einen Seite wollen wir die Zahl [ Anm.: der Infizierten] runterdrücken, damit die Intensivstationen nicht überlastet sind und wir für jeden Menschen die maximalen Ressourcen, die bestmögliche Versorgung haben." Auf der anderen Seite, fährt der Virologe fort, „wenn wir zu gut sind, die Kurve zu gut nach unten drücken, werden wir das Problem haben, dass es sehr lange dauert, bis wir eine sogenannte Herdenimmunität erreichen".
Eine tiefere Erklärung seiner Position bietet Streeck auch. Er glaube nicht, dass es gelingen wird, den Lockdown so lange durchzuhalten, bis Medikamente und Impfstoff zur Verfügung stehen, wofür Experten zwölf bis achtzehn Monaten veranschlagen. „Ein Großteil der Bevölkerung wird sich infizieren", sagt er. Es gibt, so seine Botschaft, keine Alternativ zur Strategie der Herdenimmunität.
Damit stellt er sich in direktem Widerspruch zu vielen seiner Kollegen, die vor den immensen Totenzahlen bei einer Strategie der Herdenimmunität warnen - unabhängig davon, ob diese Menschen nun binnen weniger Wochen sterben und im Prozess die Kliniken komplett überfordern oder ob sich der Prozess länger hinzieht.
Entscheidende Kennziffer der beiden unterschiedlichen Strategien ist die sogenannte „effektive Reproduktionszahl R", also die Zahl der Menschen, die ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Wer das Virus kontrollieren will, bis es Medikamente oder einen Impfstoff gibt, muss diese Zahl unter 1 drücken und das Wachstum des Infektionsgeschehens dadurch stoppen. Das ist die Strategie, die wir nun sehen: Das öffentliche Leben wird weitgehend zum Stillstand gebracht, Infektionsherde werden genau untersucht, über den Startzeitpunkt von Lockerungen wird erst nachgedacht, wenn der Schwellenwert unterschritten ist, also die Zahl der Infizierten Menschen zurückgeht.
In einer Publikation vom 9. April schätzt das Robert-Koch-Institut, dass die effektive Reproduktionszahl von SARS-CoV-2 in Deutschland Anfang März bei 3 gelegen hat, was eine schnelle Ausbreitung bedeutet. Bis zum 22. März sei der Zielwert um 1 erreicht worden, seit dem 30. März aber steige „R" wieder leicht an. Für den 12. April gibt das RKI die Reproduktionszahl mit 1,2 an, also wieder über der Schwelle. Als Grund wird vermutet, dass das Virus nun Alten- und Pflegeheime erreicht hat, wo es sich rasch ausbreiten kann.
Wer es dagegen für ausreichend oder geboten hält, auf einigermaßen kontrolliertem Weg zur „Herdenimmunität" zu gelangen, bevor Medikamente und Impfstoffe zur Verfügung stehen, in dessen Planung kann jeder Infizierte im Durchschnitt auch mehr als einen weiteren Menschen anstecken. Das hieße für die aktuelle Situation, dass man sehr schnell mit Lockerungen des Lockdowns beginnen könnte, R müsste nur so niedrig sein, dass die Kliniken mit dem Behandeln hinterherkommen und die Bestatter wenn möglich mit dem Beerdigen.
Nur: Das ganze Konzept der „Herdenimmunität" ist in der heutigen Lage äußerst fragwürdig. Großbritannien hat es verfolgt, dann panisch aufgegeben. In Schweden wachsen die Zweifel. Es gibt Länder, die mangels eines funktionierenden Gesundheitssystems keine andere Wahl als eine „Durchseuchung" haben werden. Aber Deutschland?
Der Effekt davon, jetzt Maßnahmen wieder zu lockern, wäre absehbar: Man geht das Risiko ein, dass die Pandemie doch außer Kontrolle gerät, nämlich dann, wenn es zum „Rebound" kommt, zur Rückkehr des Erregers mit hohen Infektionszahlen. Die Wissenschaftler des Imperial College raten deshalb zu Restriktionen für das öffentliche Leben, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht - also womöglich bis zum Herbst 2021.
Einen Vergleich macht Hendrik Streeck Ende März nicht mehr - den aus seiner ersten Äußerung zum Thema auf Twitter. „Nach den bisherigen Daten ist die #influenza dieses Jahr eine größere Gefahr als das neue #coronavirus", hatte er Ende Januar geschrieben. Inzwischen äußert er sich bei seiner wachsenden Zahl von Medienauftritten anders.
„Der Vergleich zwischen Coronavirus und Grippe hinkt einfach", sagt er im Podcast „The Daily Streeck" des Bayerischen Rundfunks am 26. März. Es helfe nicht, wenn man Äpfel und Birnen vergleiche. Grippeerreger würde das menschliche Immunsystem schon kennen, das Coronavirus sei für uns dagegen neu. Außerdem gebe es gegen Grippe eine Impfung. Einen Tag später sagt er in einem Interview des Handelsblatts: „Es ist ein ernstzunehmendes Virus, man darf das nicht bagatellisieren. Es ist keine saisonale Grippe, wie manchmal behauptet wird."
Die Infektionszahlen und auch die Zahl der Toten steigen in den letzten Märztagen stark an. Nach Wuhan, Bergamo und Heinsberg wird mit New York eine weitere Millionenmetropole zum Opfer von SARS-CoV-2. Deutschland verzeichnet mehrere Tausend neue Fälle pro Tag.
Am Vormittag des 31. März 2020 tritt Streeck zusammen mit Stephan Pusch, dem Landrat des Kreises Heinsberg, vor die Presse. Seine Forschungsarbeit in der Region tritt in eine neue Phase. Nun schießt die nordrhein-westfälische Landesregierung, deren mangelndes Eingreifen in dem Hotspot-Landkreis Streeck wiederholt kritisiert hat, einen Teil der Kosten bei (65.000 Euro, wie später bekannt wird).
Fakten schaffenLandrat Pusch kündigt an, schon am Nachmittag würden die ersten Tests für eine Studie beginnen, „die nicht nur für den Kreis Heinsberg eine Aussagekraft hat, sondern im besten Fall für Nordrhein-Westfalen oder vielleicht für ganz Deutschland". Bis zu jenem Dienstagmorgen seien im Kreis Heinsberg 8000 Tests durchgeführt worden. Das sei auf die knapp 255.000 Einwohner des Kreises eine „hohe Durchtestung", sagt der CDU-Politiker, aber nicht genug: „Wir tappen natürlich bei unseren Maßnahmen in ganz großen Bereichen noch irgendwo im Dunkeln, das heißt, ich stelle mir das immer vor wie eine dunkle Halle, für die ich kein Flutlicht habe, sondern ich habe einfach nur Testverfahren, um da ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen."
Pusch möchte wissen: „Wie viele Menschen hatten denn bereits eine Coronaviruserkrankung?" Die Antwort ist wichtig, denn sie gibt Auskunft darüber, wie groß die Dunkelziffer der Menschen ist, die mit dem Coronavirus infiziert wurden, keine schweren Symptome zeigen aber nun wegen der Reaktion ihres körpereigenen Abwehrsystems immun sein könnten. Und erst wenn man die Gesamtzahl der Betroffenen kennt, lässt sich auch abschätzen, wie gefährlich ein Virus wirklich ist - als Anteil der Sterbefälle an der Zahl der Infizierten und der Gesamtbevölkerung.
Streeck spricht bei der Pressekonferenz am 31. März in Gangelt davon, dass Wissenschaftler und Politik „in einer nie dagewesenen Komprimiertheit zusammenarbeiten" müssten. Die Wissenschaft spreche Handlungsempfehlungen aus, die Politik müsse entscheiden. „Das Ganze haben wir ja schon bei der Diskussion erlebt: Welche Maßnahmen sind eigentlich erforderlich, um das Virus effektiv einzudämmen?"
Doch es gibt in den Äußerungen interessante Nuancen: Einerseits sagt der Bonner Virologe, er wolle „ergebnisoffen da rangehen." Andererseits formuliert er das, was wenige Tage später bei der vielbeachteten Pressekonferenz mit Ministerpräsident Laschet passieren wird: Streeck sagt, er wolle die Entscheidungsgrundlage dafür schaffen, „Maßnahmen wieder herunterzufahren oder aufzuheben". „Ein Kriterium, auf das wir uns als Virologen beziehen, sind die Fakten. Und die Studien, die wir durchführen. Es gibt überhaupt keine Fakten, und ich denke, es ist an der Zeit, Fakten zu schaffen für Deutschland." Dazu gehöre „wie groß die Sterblichkeitsrate durch das Coronavirus ist im Vergleich zu Existenzen, die wir gefährden."
Mit 40 Bonner Medizinstudenten richtet Streeck an diesem Tag in einer Schule in Gangelt ein Testzentrum ein.
Noch am selben Abend ist der Wissenschaftler Gast in der ZDF-Sendung von Markus Lanz [ Mitschnitt verfügbar bis 30. April 2020], gemeinsam mit der Theologin Margot Käßmann und dem Ökonomen Marcel Fratzscher sowie zwei zugeschalteten Gästen. Schon nach einer Viertelstunde kommt das Gespräch auf die Frage, ob der „Shutdown" des öffentlichen Lebens nicht überzogen und voreilig sei „auf Basis von Fakten, die nicht mal wirklich verifiziert sind", wie der Moderator sagt.
Lanz glaubt, genau so eine Kritik am Kurs der Bundesregierung und anderer Regierungen aus den Äußerungen Streecks herauszuhören. Dieser antwortet, er hätte einen anderen Kurs befürwortet als ihn die Kanzlerin verfolgt, nämlich vor einem Lockdown erst einmal abzuwarten, ob nicht andere Maßnahmen greifen:
„Im Nachhinein kann man ja immer irgendwie sagen, ich weiß es besser. Aber als dieser Moment gewesen ist, dass wir in sehr kurzer Zeit eine Maßnahme nach der anderen ergriffen haben - ich weiß nicht mehr, wie es losging, aber es wurden ja erst größere Veranstaltungen abgesagt, dann wurden Schulen geschlossen und dann kam eben die Ausgangsbeschränkung, und zur Ausgangsbeschränkung habe ich im Vorfeld schon gesagt, wir sollten erstmal abwarten und schauen, was passiert. Das Virus gehorcht keinem Politiker, es gehorcht keinem Menschen - wie jetzt aufzuhören, Menschen zu infizieren. Und vor allem weil wir ja, was wir heute beschließen, erst in zwei Wochen das Ergebnis sehen. Jetzt fangen wir so langsam an, die Ergebnisse - vielleicht, wir wissen es nicht - die Ergebnisse zu sehen von den ersten Maßnahmen. Aber man muss dem Virus Zeit lassen, dass wir auch die Ergebnisse langfristig sehen und einordnen können, was funktioniert und was nicht. Genauso falsch würde ich es jetzt finden, alles sofort zurückzudrehen und zu sagen, es hat alles funktioniert. Jetzt sind wir in dieser Situation, jetzt müssen wir auch schauen, wie wir das Virus oder die Infektionsraten steuern können."Ein Widerspruch? Einerseits sagt Streeck, das Virus gehorche keinem Politiker, was fatalistisch klingt. Andererseits sagt er, es gehe darum, Infektionsraten „zu steuern", was nach Handlungsfähigkeit klingt.
Bürger StreeckStreeck formuliert an diesem Abend eine politische Strategie: Dem Virus Zeit lassen zu zeigen, wie viele Menschen es wie infiziert; strengere Maßnahmen erst zu zünden, wenn laxere nicht funktionieren. Das inmitten einer Zeit zu sagen, in der den Epidemiologen zufolge jede Stunde Infektionsgeschehen darüber entscheidet, wie steil die Kurve der Fälle ansteigen wird, ist auf jeden Fall mutig.
„Es geht ja nicht darum, das Virus laufen zu lassen", sagt Streeck in der Runde. Aber ob man am Ende dann eine Ausgangsbeschränkung gebraucht habe, „das habe ich in Frage gestellt."
Der Wissenschaftler empfiehlt in der Sendung den südkoreanischen Weg: massenhaft zu testen - obwohl die Testkapazität in Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch stark limitiert ist. Und er lobt den Sonderweg Schwedens, auf freiwillige Mitwirkung der Bevölkerung zu setzen, für das sogar US-Präsident Donald Trump, der das Virus anfangs nicht ernst genommen hat, das Land kritisiert: „Die Schweden appellieren eben daran, Abstand zu halten, keine großen Gruppen zu haben, aber das normale Leben, der normale Alltag geht weiter, und appellieren an die Händehygiene und dass sie aufeinander achtgeben", sagt Streeck. „Wenn jemand sich krank fühlt, dann bleibt er zuhause." Das sei „gar nicht so verkehrt".
In einer Einblendung wird Streeck mit seinem Amt als Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn vorgestellt. Aber er äußert sich an diesem Abend noch in einer zweiten Rolle -als „Bürger", wie er sagt. Zahlen und Fakten, die gegen einen Lockdown sprächen, hat Streeck bis dahin nicht vorgelegt. Jetzt wird am ehesten so etwas wie ein Motiv deutlich, warum er die ganze Zeit den Lockdown abgelehnt hat, den andere Virologen und Epidemiologen für absolut notwendig erachten.
„Das heißt, man sollte über eine Exitstrategie nachdenken?", fragt Lanz, nur wenige Tage, nachdem die Ausgangsbeschränkungen überhaupt in Kraft getreten sind, für die Politiker in aller Welt nun ihre Bevölkerungen vor allem um Geduld bitten. „Ich persönlich, wieder als Bürger gesprochen, halte es für extrem wichtig", antwortet Streeck.
Bürger Streeck denkt so: „Wir hatten schon mit vielen Viren zu tun und ich sehe einfach, was so eine Ausgangssperre, oder eine Ausgangsbeschränkung mit den Menschen macht. Ich hab selber Freunde, die sich fragen, ob sie danach noch einen Job haben oder Freunde, die sich wundern, ob sie ihre Miete irgendwie langfristig bezahlen können, wo ich das im Verhältnis zu anderen Viren und anderen Epidemien, die wir gehabt haben, schon ganz schön drastisch finde als Einschränkung."
Als Schlüssel zum weiteren Vorgehen stellt Streeck nun seine Studie in Heinsberg dar: „Darum haben wir eben diese Studie initiiert, um Fakten zu schaffen, um zu sagen, wir haben jetzt eine so und so viel prozentige Dunkelziffer, so und so viel waren infiziert, und das ist eigentlich die Sterblichkeitsrate. Wir können uns anschauen, was sind eigentlich die Infektionswege, und wie können wir die durchbrechen. Zum Beispiel, wir haben noch nie von Infektionen in Friseursalons gehört, jetzt sind Friseursalons geschlossen."
Dass es vielleicht keine bekannten Infektionen in Friseursalons gegeben hat, eben weil diese geschlossen wurden, wird an diesem Abend nicht diskutiert.
Die Verheißung des gewohnten AlltagsWie sehr es derzeit Schlag auf Schlag geht, zeigt der nächste Tag, der 1. April. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet, der mit Gesundheitsminister Jens Spahn als seinem Vize für den CDU-Vorsitz kandidiert, beruft einen „Expertenrat" zur Corona-Krise ein, der am 3. April zum ersten Mal tagt.
Laschet lässt keinen Zweifel daran, für wie ernst und gefährlich er die Lage hält. Er fordert die Bevölkerung am selben Tag auf, die häusliche Quarantäne strikt zu befolgen: „Lassen Sie jetzt nicht nach. Lassen Sie uns gemeinsam weiter durchhalten. Nur so können wir Leben retten und schützen."
Doch während das ganze Land noch damit beschäftigt ist, die erst eine Woche vorher verhängten Beschränkungen zu verstehen und im Alltag umzusetzen, denkt Laschet bereits voraus, wie die Beschränkungen wieder aufgehoben werden können: „Die Mitglieder des Expertenrats werden sich unter anderem mit den ökonomischen und sozialen Konsequenzen einer lang andauernden Politik der sozialen Distanzierung und des wirtschaftlichen Shutdowns befassen und Szenarien für den Übergang zwischen Krisenmodus und Normalität diskutieren", heißt es in der Mitteilung der Staatskanzlei.
Dem zwölfköpfigen Gremium gehören auch mehrere renommierte Wissenschaftler an - darunter als einer von zwei Medizinern Hendrik Streeck. „Schon jetzt Strategien für die Rückkehr ins soziale & öffentliche Leben entwickeln: Heute erste Sitzung des Expertenrats #Corona von Ministerpräsident @ArminLaschet", tweetet die Staatskanzlei in Düsseldorf am 3. April.
Drei Tage später, am 6. April, beginnt eine weitere bemerkenswerte Entwicklung. Auf Twitter und Facebook gehen zwei neue Nutzerkonten mit dem Namen „Heinsberg Protokoll" online. Beide Accounts beginnen mit einer programmatisch wirkenden Zitatkachel von Hendrik Streeck: „Es geht hier nicht um Meinungen, das Ziel ist es, eine Faktenbasis zu schaffen."
Doch der erste Tweet von „Heinsberg Protokoll" enthält noch eine andere Botschaft - einen Satz, der im Licht der Ereignisse wenige Tage später hellhörig macht: „Unser Forschungsziel: schnell Fakten zu #COVID10 liefern, damit die Bundesregierung Maßnahmen oder Lockerungen erarbeiten kann", heißt es, und weiter: „Je schneller wir erste Erkenntnisse teilen können, desto eher kehren wir in unseren gewohnten Alltag zurück."
Wer aber sagt, dass Argumente für eine schnellere Lockerung als Ergebnis herauskommen müssen?
„Ergebnisoffen" solle die Heinsberg-Studie sein, hatte Streeck nur eine Woche vorher beteuert. Doch in dem Social-Media-Auftritt klingt das nun anders: Als würden die „Erkenntnisse" automatisch dazu führen, dass es zu einer Lockerung kommt, und zwar je schneller, je früher Ergebnisse bekannt werden.
Kennt da also jemand schon das Ergebnis der Forschungsarbeiten, wo sie doch gerade erst begonnen haben? Und könnte nicht auch das Gegenteil der Fall sein? Könnten die Ergebnisse aus Heinsberg nicht ebenso gut zu dem Schluss führen, dass die Ausgangsbeschränkungen noch lange aufrechterhalten werden müssen?
Offenbar nicht aus Sicht des Absenders der Botschaften. Als den nennen die Accounts in der Twitter-Bio „StoryMachine" und im Impressum bei Facebook die „StoryMachine GmbH". Später wird StoryMachine mitteilen, dass das Projekt „Heinsberg Protokoll" aus Eigenmitteln der drei Gesellschafter Kai Diekmann, Michael Mronz und Philipp Jessen sowie aus Mitteln der Firmen Deutsche Glasfaser und der Gries Deco Company, zu deren Portfolio „Depot"-Märkte gehören, die wegen der Coronakrise geschlossen wurden.
In den folgenden Tagen verbreiten die Accounts Bilder von hochmotivierten Forscherinnen und Forschern bei der Arbeit. Die Stimmung scheint gut zu sein.
Und schon am 9. April, Gründonnerstag, also innerhalb eines für wissenschaftliche Studien geradezu unerhört kurzen Zeitraums, gibt es etwas zu verkünden - „Zwischenergebnisse".
10.30 Uhr morgens, Staatskanzlei Düsseldorf. Ein kleines Trüppchen Journalisten sitzt im Saal, mit viel Abstand zwischen den Stühlen. Andere sind per Video zugeschaltet.
Ministerpräsident Armin Laschet tritt ans Rednerpult. Er spricht von einem „Dreiklang von Maßnahmen", zu denen es gehöre, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, die Krankenhäuser ausreichend auszustatten und schon jetzt darüber nachzudenken, wie man die Folgen der Pandemie „für unser Land, unsere Wirtschaft und für jeden Einzelnen" abfedern könne.
Ein Bogen von Gangelt in den Rest der RepublikEs sind Aussagen, wie sie in diesen Tagen rund um die Welt viele Politiker machen, die also ganz normal und rational sind - würde Laschet nicht eine erstaunliche Verbindung ziehen zwischen der anstehenden „Vorbereitung auf die Zeit nach der Krise" und der Heinsberg-Studie von Hendrik Streeck, die er in Auftrag gegeben habe, um „zu Erkenntnissen zu kommen, die dann wieder für die Politik von Bedeutung sind" mit dem Ziel, „Freiheit und Gesundheit der Bürger besser in Einklang zu bringen als bisher". Und würde wenig später über den Zeitpunkt der Lockerung nicht das Wort „jetzt" fallen.
Man müsse auch die Schäden durch den Lockdown „in Rechnung stellen und dann immer wieder zu einer Abwägung kommen". Und deshalb, sagt Laschet, zu Streeck gewandt, sei er froh, dass der Wissenschaftler heute einen „ Zwischenbericht " des Forschungsprojekts „Covid-19 Case Cluster Study" geben werde.
Was nun folgt, ist ein in der jüngeren deutschen Wissenschaftsgeschichte bemerkenswerter Vorgang. Drei Universitätsprofessoren - neben Streeck sind Gunther Hartmann vom Institut für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie und Martin Exner vom Institut für Hygiene und öffentliche Gesundheit am Bonner Universitätsklinikum zugegen - springen in ihren Redebeiträgen von der örtlich begrenzten, in ihren Bedingungen ziemlich besonderen Datensammlung in der Gemeinde Gangelt, für die es nur Zwischenergebnisse ohne externe Begutachtung gibt, quasi mit Lichtgeschwindigkeit zum großen Ganzen der deutschen Pandemiepolitik und wieder zurück. Nur wenige Tage, nachdem sie ihre Studie überhaupt begonnen haben, stellen sie Zahlen dar, von denen Streeck sagt, sie seien „repräsentativ".
Von 500 Personen in 200 Haushalten sind die Daten an diesem Vormittag erst ausgewertet. 15 Prozent der Menschen in Gangelt seien demnach bereits mit dem Coronavirus infiziert gewesen und 0,37 Prozent dieser Infizierten verstorben, rechnet Streeck vor. Das entspricht sieben Menschen. Die „Letalität", also der Anteil der Infizierten, der verstirbt, sei damit fünf Mal niedriger als es die vielzitierte Johns Hopkins Universität für Deutschland berechne, sagt Streeck.
Eine gute Nachricht? Zumindest klingt es so, als wäre Covid-19 deutlich weniger schlimm als es bislang erscheint. Der Vergleich funktioniert aber nur, wenn man Zahlen, die allein für die Gemeinde Gangelt sprechen, mit Zahlen der Johns Hopkins Universität in Beziehung setzt, die sich auf ganz Deutschland beziehen, wo bekanntermaßen noch nicht so umfangreich ohne medizinischen Anlass getestet wurde, dass man die Dunkelziffer hätte erfassen können.
Später entzieht Streecks Kollege Gunther Hartmann dem Argument vor laufenden Kameras den Boden: „Die 15 Prozent sind eine ganz wichtige Zahl, aber die können wir nicht extrapolieren auf ganz Deutschland, weil hier eine Sondersituation vorliegt."
Dessen ungeachtet ist Streecks Botschaft an diesem Tag wie bereits am Beginn der Pandemie in Deutschland: Nicht so schlimm wie andere behaupten.
Schon nach sieben Minuten Redezeit springt der Virologe von seinen vorläufigen Zahlen aus Gangelt ohne Überleitung, Punkt oder Komma zu weitreichenden politischen Folgerungen für das ganze Land. Er bezieht sich auf eine Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, zu deren Vorstand Exner gehört, und leitet urplötzlich aus seiner „Studie" ab, dass nach einer „Phase 1", der des strengen Lockdowns, jetzt eine neue Phase beginnen könne: „Dadurch, dass die Menschen so aktiv und diszipliniert jetzt in weiten Teilen mitmachen, ist es uns jetzt möglich, in eine Phase 2 einzutreten, eine beginnende Rücknahme der Quarantänisierung bei gleichzeitiger Sicherung der hygienischen Rahmenbedingungen und Verhaltensweisen." Daten, die das begründen würden, legt er nicht vor.
Streeck legt keine Zahlen vor, die belegen, wie gut sich die Heinsberger oder die Deutschen insgesamt an die Hygienevorschriften halten. Er benutzt aber, was den Zeitpunkt der Lockerungen betrifft, das entscheidende Wort, das seine Wissenschaftlerkollegen von der Leopoldina vier Tage später tunlichst vermeiden werden: „Jetzt".
Sein Nachredner, Martin Exner, spricht über die mögliche Öffnung von Kitas und Schulen, ohne auf die Frage einzugehen, wie vermieden werden könnte, dass junge Menschen die Krankheit in Familien mit Personen aus den Risikogruppen tragen, etwa zu ihren diabetischen oder asthmatischen Eltern. Einem internen Papier des Bundesinnenministeriums zufolge gehören in Deutschland 20 Millionen Menschen in eine der Risikogruppen, denen bei einer Erkrankung an Covid-19 ein besonders schwerer oder tödlicher Verlauf droht. Nur eine Million von ihnen lebt in Alten- und Pflegeheimen.
Das Leid bis zur HerdenimmunitätErst der dritte Wissenschaftler, Gunther Hartmann, lässt überhaupt durchblicken, welche Realität und Botschaft hinter den Forderung der Männer auf dem Podium nach einer schnellen Lockerung der Ausgangsbeschränkungen steckt. Hartmann sagt es verklausuliert: „Prinzipiell wäre man in der Lage, auf der Grundlage dieser Studie und anderer Studien durchzurechnen, was es der Gesellschaft kosten würde an Leid, bis zur Herdenimmunität zu kommen."
Die nicht genannte Zahl kann man selbst ausrechnen: 70 Prozent von 83 Millionen Menschen in Deutschland wären nötig, um eine „Herdenimmunität" zu erreichen. Das wären 58 Millionen Menschen, die sich infizieren müssten. Wenn davon jene 0,37 Prozent sterben würden, von denen Streeck an diesem Tag spricht, dann wären das 215.000 Menschen. Das entspräche etwa der Einwohnerzahl von Mainz oder Erfurt.
Ein Anlass, Lockerungen zu fordern zu einem Zeitpunkt, an dem die harten Auflagen gerade überhaupt erst zu wirken beginnen?
Ebenfalls am Donnerstag kündigt das Robert-Koch-Institut an, eine bundesweite Testung zu starten, bei der alle 14 Tage 5000 Blutspender, zudem regelmäßig 2000 Personen in Hotspot-Regionen und einmalig 15.000 Personen an 150 Studienstandorten auf Antikörper gegen SARS-CoV-2 untersucht werden sollen. Es ist die Art von Studie, die wirklich repräsentative Ergebnisse liefern kann. Ergebnisse werden für Mai und Juni angekündigt.
Keine halbe Stunde, nachdem die Pressekonferenz zu Ende ist, schaltet das Science Media Center (SMC), eine gemeinnützige Serviceeinrichtung für Journalisten zu Wissenschaftsthemen mit Sitz in Köln, eine Verbindung zu Christian Drosten und zu Gérard Krause, dem Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Eigentlich soll es in dem Online-Pressegespräch um künftige Test-Strategien gehen, doch schnell kommt das Gespräch auf die Aussagen in Düsseldorf.
Das Tempo, in dem die Wissenschaft in der Coronakrise arbeitet, ist atemberaubend. Schritte, die früher lange gedauert hätten - die Gensequenz des Erregers zu ermitteln, Tests zu entwickeln, Angriffspunkte für Wirkstoffe zu suchen, die Impfstoffentwicklung zu beginnen - passieren nun in Rekordzeit. Aber es kann auch vorkommen, dass etwas zu schnell vonstatten geht. Und diesen Eindruck bekamen die Teilnehmer der SMC-Runde, als sie vor ihrem Gespräch die Pressekonferenz in Düsseldorf anschauten.
Christian Drosten wird später dem Eindruck widersprechen, er habe seinen Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Bonn kritisieren wollen. Drosten ist es zuwider, wenn Menschen von Medien gegeneinander ausgespielt werden. Doch wie Krause lässt er in seiner ersten Reaktion durchblicken, dass ihm das, was er von Hendrik Streeck erfahren hat, nicht überzeugt: „Ich habe mir gerade diese Pressekonferenz angehört auf Phoenix, und ich kann daraus nichts ableiten. Da wird einfach so wenig erklärt, dass man nicht alles versteht."
Krause und Drosten hinterfragen sodann, ob die von Streeck verwendeten Tests zuverlässig sind, ob sie vielleicht auch die fast allgegenwärtigen saisonalen Coronaviren mit erfasst haben, ob die Daten der Testpersonen so wie standardmäßig üblich in die Auswertung eingegangen sind, nämlich dass alle Bewohner eines infizierten Haushalts als eine einzige Person gezählt werden müssen.
10. April. Am Karfreitag schlägt Streeck von WissenschaftsjournalistInnen massiv Kritik entgegen. Bei ZEIT Online nehmen die Wissenschaftsjournalisten Florian Schumann und Dagny Lüdemann die Düsseldorfer Pressekonferenz auseinander. Als sie Streeck mit ihren Kritikpunkten konfrontieren, sagt dieser ihnen dem Bericht zufolge am Telefon, die Studie sei „mit heißer Nadel gestrickt" worden. Der Forscher bestätigt laut ZEIT ausdrücklich, dass die Terminwahl für die Pressekonferenz einen politischen Hintergrund hatte, nämlich das für Mittwoch geplante Gespräch zwischen Bundeskanzlerin Merkel und den Ministerpräsidenten über das weitere Vorgehen in der Coronakrise.
Diskussionen bis in die Nacht„Der Grund, dass man die Ergebnisse unbedingt noch vor Ostern präsentieren wollte, sei gewesen, dass nach Ostern ja entschieden werden solle, wie es mit den strengen Maßnahmen weitergeht, sagte Streeck am Telefon", schreiben die ZEIT-Journalisten.
In der Süddeutschen Zeitung setzt sich die Wissenschaftsjournalistin Kathrin Zinkant ebenfalls kritisch mit Streecks Auftritt auseinander. „Laschet stellte im Landtag später eine Lockerung der Maßnahmen nach Ostern in Aussicht - als habe Streeck den Beleg erbracht, dass man über den Berg sei mit Corona", schreibt Zinkant. „Doch tatsächlich gibt die Studie das nicht her. Sie ist vermutlich sogar methodisch fehlerhaft."
Am Karsamstag legt Ministerpräsident Laschet indes nach. Er schickt Bundeskanzlerin Angela Merkel und den MinisterpräsidentInnen der anderen Bundesländer eine Stellungnahme seines Expertenrats, die es in sich hat, und macht sie via Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung öffentlich. Während Merkel am Donnerstag noch davon gesprochen hatte, dass ihre „übergeordnete Verantwortung" im Lebens- und Gesundheitsschutz bestehe, drängt Laschet darauf, das Land in Richtung Lockerung der Auflagen zu bewegen.
Bildungseinrichtungen sollten „so schnell wie möglich" wieder öffnen, Geschäfte nach dem Vorbild von Lebensmittelläden in den Alltag zurückkehren dürfen, Kitas mit Personal, das nicht zu den Risikogruppen gehören, dürfe wieder weitermachen, schreiben seine Experten. Der NRW-Ministerpräsident bezeichnet die Vorschläge in einem Begleitbrief als „transparent" und „nachvollziehbar".
Am Ostersonntag dann setzen sich die Bonner Forscher gegen die Kritik ihrer Kollegen zur Wehr. Streeck sagt im Tagesspiegel nun, die Veröffentlichung der Zwischenergebnisse ohne die in der Wissenschaft übliche Begutachtung sei keinesfalls leichtfertig erfolgt: „Wir haben bis in die Nacht auf Donnerstag darüber diskutiert, ob wir jetzt erste Daten präsentieren sollen. Wir entschieden uns dazu aus ethischen Gründen, und weil wir uns verpflichtet fühlten, einen nach wissenschaftlichen Kriterien erhobenen validen Zwischenstand vor Publikation mitzuteilen." Zwischenergebnisse würden auf Kongressen ständig und auf der ganzen Welt mitgeteilt, in Vorträgen und über Posterpräsentationen.
Allerdings lässt Streeck Beispiele offen, welche Posterpräsentation je Vorlage einer politischen Entscheidung gewesen ist, bei der es um das Leben Hunderttausender Menschen ging.
In der taz kontert am selben Tag der Pharmakologe Gunther Hartmann, der mit Streeck die Studie durchgeführt hat, die Anmerkungen von Drosten und Krause mit den Worten, es sei „schade, dass Kollegen uninformiert voreilige und sichtlich unüberlegte Schlüsse ziehen, die das Bild in den Medien derart verzerren."
Hartmann wählt in der taz zugleich den Weg der Nachvorneverteidigung. Alle beteiligten Wissenschaftler seien „bei Konzeption, Design und Präsentation der Studie unabhängig von Interessen Dritter, einschließlich der Medienfirma StoryMachine".
Das zu betonen ist zu diesem Zeitpunkt dringend nötig. Denn fragt man sich, mit welchen Motiven es zu rechtfertigen ist, dass der angesehene Direktor des angesehenen Bonner Virologieinstituts sich dazu bringen lässt, im Dienst eines politischen Zeitplans vorläufige Zahlen aus einer einzelnen Gemeinde als Richtschnur für den nationalen Pandemieplan auszugeben, kommt einem schnell Storyline und Versprechen von StoryMachine aus dem „Heinsberg Protokoll" i n den Sinn: „Je schneller wir erste Erkenntnisse teilen können, desto eher kehren wir in unseren gewohnten Alltag zurück."
„PR und Journalismus extrem geschickt vermischt."An Schnelligkeit hat es nicht gemangelt, alle Botschaften wurden rechtzeitig vor den Bund-Länder-Verhandlungen über die Zukunft von Corona-Deutschland an diesem Mittwoch gesendet und verbreitet. Die Republik redet jetzt über Lockerungen statt darüber, wie der Lockdown durchzuhalten ist. Es ist Laschet, Streeck und StoryMachine gelungen, in der politischen Themen- und Prioritätensetzung neue Fakten zu schaffen und Aufmerksamkeit vom Lockdown auf den Exit umzulenken.
Doch das PR-Bündnis hat einen Preis: Die Kritik an der Seriosität des Vorgehens.
Einer der drei Gründer der StoryMachine GmbH ist, was Wissenschaft betrifft, nicht unbedingt für taugliche Stories bekannt. Der frühere BILD-Chefredakteur Kai Diekmann war 2019 in einen handfesten Skandal am Universitätsklinikum Heidelberg verwickelt, wo PR-Leute mit einem Mediziner die Story eines verheißungsvollen Brustkrebstests kreierten und als „Weltsensation" in der BILD platzieren konnten - eine Story, die sich anschließend als substanzloser Bluff erwies und nun die Justiz beschäftigt.
Eigentlich hätte einen seriösen Virologen diese Vorgeschichte abschrecken müssen, das Angebot von StoryMachine, seine Studie zu begleiten, anzunehmen. Doch Michael Mronz, Mitgründer von StoryMachine, ist ein guter Bekannter von Streeck. Der Virologe und Mronz - langjähriger Partner und seit 2010 Ehemann des 2016 verstorbenen FDP-Politikers Guido Westerwelle - kennen sich über viele gemeinsame Freunde und Weggefährten. Auch mit Laschet ist Mronz, der beruflich neben seiner Rolle bei StoryMachine vor allem im von der Corona-Krise gebeutelten Event-Branche aktiv ist, in gutem Kontakt: Die beiden setzen sich gemeinsam dafür ein, dass die Olympischen Spiele im Jahr 2032 in der Region Rhein-Ruhr stattfinden. Mronz, Diekmann und der dritte StoryMachine-Mitgründer Philipp Jessen, früherer Chef von stern.de, brüsten sich eigentlich damit, nie über ihre Kunden zu sprechen. Für Streeck machten sie eine Ausnahme.
Ziel des Engagements sei es, sagte Jessen in einem Interview mit Meedia, der „überragend wichtigen und wissenschaftlich bedeutenden Arbeit" von Hendrik Streeck „größtmögliche Öffentlichkeit und Sichtbarkeit zu ermöglichen." Ein zehnköpfiges Team solle die Forschung mit einer „journalistischen Herangehensweise" begleiten. Es klang so, als würde die Begleitung laufen, bis das Forschungsprojekt abgeschlossen ist.
Doch nicht nur die SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag, die eine Anfrage zum Engagement von StoryMachine stellt, übte Kritik. Auch Experten für Wissenschaftskommunikation zeigten sich alarmiert von dem Vorgehen der Agentur. „Das ‚Heinsberg Protokoll' ist, was die Social-Media-Nutzung angeht, sehr gut und professionell gemacht, trotzdem ist es hochproblematisch", sagt Annette Leßmöllmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Wissenschaftskommunikation am Karlsruher Institut für Technologie. Es fange schon damit an, dass man auf der Basis von nur einer Studie nicht abschätzen könne, wie überragend und wichtig sie sei.
Dem „Heinsberg Protokoll" fehle es im Gegensatz zu den eigenen Behauptungen an einer journalistischen Herangehensweise: „Ganz wichtiges Handwerkszeug des Wissenschaftsjournalismus wird beim ‚Heinsberg Protokoll' ignoriert, wie mehrere Quellen heranzuziehen, nicht aus verfrühten, lauten Pressekonferenzen Meldungen zu machen, Aussagen des Studienleiters zu hinterfragen." Ihr Urteil: „Hier werden PR und Journalismus extrem geschickt vermischt."
Dokumentation beendetJens Rehländer, Kommunikationschef der Volkswagen-Stiftung und einer der erfahrensten Akteure in der deutschen Wissenschaftskommunikation, äußert sich ähnlich negativ: „Die Agentur hat hier die Chance genutzt, als Dienstleister an der Aufmerksamkeit zu partizipieren, die Streeck zur Zeit auf sich zieht und einen Show Case kreiert, der für die weitere Kunden-Akquise nützlich sein soll", sagt er. Streeck sei leider nicht in den Kopf gekommen, dass eine Kooperation mit der für ihn zuständigen Pressestelle der näherliegende Schritt gewesen wäre.
StoryMachine habe Content produziert, der keine Inhalte transportiert habe. „Eine leere Hülle", sagt Rehländer, „offenbar auch nur dafür geschaffen, möglichst schnell möglichst viel Reichweite zu erzielen - und damit Aufmerksamkeit für die Pressekonferenz am Donnerstag zu erzeugen, die ja auch vor allem auf Druck von Armin Laschet so terminiert wurde, dass er rechtzeitig vor Ostern sein Votum für eine Lockerung des Lockdown an die Kanzlerin richten konnte". Streecks Studie habe dafür die Steilvorlage liefern sollen.
Nun sei die Mission von StoryMachine erfüllt, urteilt Rehländer am Karsamstag: „Laschets Botschaft ist rechtzeitig vor den Osterferien in Berlin gelandet, der gefühlte Kanzlerkandidat hat Aufmerksamkeit erlangt. Zurück bleibt Streeck, der sich nun all der Peers und Medien erwehren muss, die seine Studienergebnisse für übereilt und methodisch unzureichend halten."
Die Medienprofis von StoryMachine sehen sich offenbar auch am Ende ihrer Mission, zumindest vorläufig.
Obwohl das Forschungsprojekt noch eine ganze Weile laufen soll, verabschieden sich die Macher des „Heinsberg Protokoll" am Ostersonntag um 18 Uhr auf Twitter vorläufig von ihrem Publikum, pünktlich zum Abschluss der Lockdown-Lockerungs-Offensive des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten. Der weitere Prozess an der Universität ist offenbar nicht mehr so interessant, erst mit den Ergebnissen will man sich wieder melden. „In Gangelt wurde schon am Donnerstag zusammengepackt. Alle Proben sind analysiert. Damit ist auch unsere Dokumentation in Heinsberg beendet."
Das Robert-Koch-Institut meldet für Ostermontag, den 13. April, 123.016 Infektionsfälle, schätzungsweise 64.300 Genesene und 2799 Todesfälle. Das entspreche einem Anteil von Todesfällen an den bekannten Infektionsfällen von 2,3 Prozent - also immer noch höher, als es Wissenschaftler erwarten, wenn umfangreiche Tests stattfinden und die Dunkelziffer kleiner wird.
Was seither geschah: