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Wie die Ukraine nach dem Krieg aussehen soll

Bildrechte: Zumapress

Wie kann der Wiederaufbau der Ukraine laufen? Ukrainische Experten versprechen sich vom angekündigten "Marshallplan" wenig.

Schon vor dem russischen Überfall war die zweitägige Konferenz in Lugano angesetzt worden - als jährliche "Reformkonferenz" für die Ukraine. Doch nun stellen sich viel dringlichere Fragen: Wie soll das gequälte, vielerorts zerstörte Land wieder auf die Beine kommen, wenn einmal Frieden ist? Und wer hilft ihm? Dazu stellen in der Schweiz ab heute Vertreter des ukrainischen "Nationalrats für den Wiederaufbau" unter anderem der OECD, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, den Vereinten Nationen sowie Regierungs- und Wirtschaftsvertretern aus 40 Staaten ihre Ideen vor.


Zwar steckt das Land noch mitten im Kampf um seine Existenz: "Wir haben keine Vorstellung, wann der Krieg endet, wo er endet, wie das Land dann aussehen wird", bringt der Wirtschaftsexperte Andrian Prokip vom Kiewer Think Tank "Ukrainian Institute for the Future" es auf den Punkt. Dennoch läuft die Arbeit an Wiederaufbauskizzen schon seit April: Zu dieser Zeit sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erstmals mit Ministern und Experten großer Beraterfirmen über von ihnen erstellte Entwürfe; das Londoner Centre for Economic Policy Research veröffentlichte zur gleichen Zeit ein Essay.

Dessen Eckpunkte: Die Ukraine solle zielstrebig auf die EU-Integration hinarbeiten und stark in die Eigenverantwortung genommen werden. Sie solle Anreize für den Zustrom von Kapital und Technologie aus dem Ausland schaffen und Klimaneutralität zur Grundlage der neuen Infrastruktur machen. Und eine selbstständige, aber EU-nahe Behörde solle gleichsam wie die "Economic Cooperation Administration" zur Umsetzung des historischen Marshallplans nach dem Zweiten Weltkrieg die Maßnahmen überblicken und kontrollieren.


Eine solche Behörde sei in Kiew aber auf wenig Gegenliebe gestoßen, berichtet die ukrainische Ausgabe der "Forbes" - die ukrainische Regierung wolle die Zügel lieber selbst in der Hand halten. Und auch sonst weckt das Versprechen eines "Marshallplans" im Land kaum Begeisterung: "Ich denke nicht, dass irgendjemand den Marshallplan von vor 70 Jahren auf die Ukraine anwenden wollen würde", sagt Hlib Wyschlinsky, Geschäftsführer des Think Tanks "Centre for Economic Strategy". Die Gegebenheiten in der Nachkriegs-Ukraine seien ganz andere als in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg - was das Londoner Experten-Essay übrigens anders beurteilt.

Experte Prokip meint: Der Begriff "Marshallplan", der in Deutschland positive Assoziationen an das Wirtschaftswunder aufleben lässt, sei in der Ukraine kein Zauberwort, sondern nur ein Synonym für ein Nachkriegs-Wiederaufbauprogramm.


Wie Kiew sich das vorstellt, soll in Lugano eine Delegation unter der Führung von Premier Denis Schmyhal und Präsidialamtsleiter Andriy Jermak, die den Nationalrat für Wiederaufbau leiten, präsentieren. Laut der ukrainischen "Forbes"-Ausgabe soll es sich um ein umfangreiches Dokument handeln, das von der angestrebten EU-Integration bis zur Zwischenbilanz der Kriegsschäden sowohl Ideen für Investitionsprogramme als auch für konkrete Gesetzentwürfe für schon jetzt zu verabschiedende Reformen behandelt.


Dabei sind nicht nur auf Seiten der internationalen Partner die Kernfragen noch unbeantwortet: Welche Rolle sollen die Geberländer im Wiederaufbauprozess konkret spielen? Wird er von Kiew oder von Brüssel aus gesteuert? Und woher sollen die Länder, die Hilfen zugesagt haben, die benötigten Summen nehmen? Experte Wyschlinskyj macht sich keine Illusionen, dass es für die Regierungen der G7- und der EU-Staaten schwierig wird, ihrer Bevölkerung nach Corona-Krise und Rezession zu vermitteln, warum jetzt über Jahre und Jahrzehnte enorme staatliche Mittel in die Ukraine fließen sollen.

Er rechnet daher auch nicht damit, dass die Vorbereitungen schnell anlaufen: "In gewisser Weise waren die Erwartungen im April höher als jetzt. Denn jetzt sehen wir, dass viele Zusicherungen sich nur langsam in echtes Geld verwandeln..."

Wie Prozesse für alle Seiten transparent gestaltet werden sollen und wie Korruption in der oligarchisch durchsetzten ukrainischen Wirtschaft und Politik vorgebeugt werden soll, seien da schon "Fragen nachgeordneter Dringlichkeit".


Eine Ansicht, die die künftigen Geberinstitutionen ganz und gar nicht teilen dürften. Schon ein 2021 erschienener Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs kam zum Schluss, dass gegen Großkorruption - also Machtmissbrauch auf hoher Ebene, bei der sich einige wenige auf Kosten der Allgemeinheit Vorteile sichern - ein "nach wie vor ein zentrales Problem in der Ukraine" sei, gegen das trotz EU-Unterstützung zu wenig getan werde.

Dabei verspricht sich die Ukraine viel vom neuen Status als EU-Beitrittskandidat: Wyschlinskyj etwa hält es für einen "sehr rationalen Weg", den Wiederaufbau des Landes und die EU-Integration in enger Verflechtung anzugehen - so, dass die wiederaufgebaute Ukraine nahtlos an den Binnenmarkt angeschlossen werden kann. Dafür könnten auch im Rahmen der Sanktionen konfiszierte russische Gelder verwendet werden, meint er - das regen auch die Londoner Experten an, von denen jetzt zwei dem Wiederaufbau-Nationalrat angehören.


Energieexperte Prokip gibt zu bedenken: Es brauche eine Vision, wie das Land einmal aussehen solle. Gehe es darum, die von Russland zerstörte und ausgeplünderte Infrastruktur wiederzuerrichten oder darum, eine neue, zeitgemäße Wirtschaft aufzubauen? "Die bisherige ukrainische Wirtschaft ist ineffizient, energiegefräßig und in vielen Industriezweigen noch immer ein Nachfolgemodell der Sowjetunion, die auf den Export von Rohmaterialien setzte", sagt er.

In älteren Teilen der Bevölkerung, die im umkämpften Land zurückgeblieben sind und nun einen noch größeren demographischen Anteil ausmachen dürften, herrsche zudem eine paternalistische Mentalität: Der Staat habe für Fabriken und Arbeitsplätze zu sorgen - zugleich werde staatlichen Institutionen aber auch misstraut und Populisten Glauben geschenkt, die sich zur eigenen Bereicherung als Volkstribune inszenieren. Diese Ukrainer dürften etwa für eine Neuausrichtung auf die IT- und Kreativbranche oder für zugewanderte Arbeitskräfte, zum Beispiel aus Asien und Afrika, nicht offen sein.


Als sogenannte Gastarbeiter angeworbene Arbeitskräfte aus dem Ausland halfen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, das "Wirtschaftswunder" in dauerhaften Wohlstand zu verwandeln. Ob die Ukraine ohne sie auskommt, ist fraglich: Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung sind geflohen, mit fortschreitender Kriegsdauer könnten viele sich im Ausland ein neues Leben aufbauen - und dann dort bleiben, vermuten beide Wirtschaftsexperten.

Zwar betont Prokip: "Nicht alle, die im Ausland Erfolg haben könnten, gehen auch wirklich". Doch Wyschlinskyj gibt zu bedenken: "Wir könnten uns in einer Lage wiederfinden, in der nach dem Krieg Geld in die Ukraine fließt, aber niemand da ist, um es zu verwenden."


https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-lugano-wiederaufbau-101.html

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