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Medien in Russland: Letzte Bastion YouTube

Bildrechte: Picture Alliance

YouTube ist in Russland zur wichtigsten Plattform für Oppositionelle aus Politik und Medien geworden. Doch auch diese Möglichkeit, die Zensur zu umgehen, hat der Staat im Visier.

"Wenn ihr dieses Video schaut, ist YouTube entweder schon blockiert - oder wird es bald sein", sagt der russische Blogger Ilja Varlamov in die Kamera. Bevor es soweit ist, nutzt er sein markig betiteltes Video "Zensur in Russland: Von Puschkin bis Putin" auf YouTube aber noch für eine Art Journalismus-Elefantenrunde: Fast eine Stunde spricht Varlamov mit den Chefs aller wichtigen russischen Nachrichtenmedien - "Nowaja Gaseta", "Meduza", "Echo Moskwy", "Doschd" - über immer repressivere Mediengesetze und Zensur in Russland.

Im gleichen Video wird das Wort "Krieg", dessen Verwendung der russische Staat im Kontext der Ukraine-Invasion unter Strafe gestellt hat, durch das laute Entsichern einer Waffe ersetzt - aber nur dann, wenn Varlamov selbst spricht.

Der strubbelköpfige Publizist begann seine Karriere einst mit Blogbeiträgen über Mängel im Straßen- und Städtebau und galt vielen Oppositionellen als zu unkritisch; nun ist seine Drei-Millionen-Reichweite auf YouTube wertvoll für die unabhängigen Journalisten, deren Plattformen der russische Staat jüngst ausradiert hat.


Die jahrelange Medien-Repressionsgeschichte in Russland, die Varlamovs Beitrag durchstreift, verlief für Nachrichtenredaktionen und Blogger lange in entgegengesetzte Richtungen: Mit jedem Jahr wurden in Russland mehr Zeitungen und Sender durch Personal-Umbesetzungen auf Linie gebracht, ihre Portalseiten blockiert oder Sendelizenzen entzogen, Redaktionen oder einzelne Journalisten durch den Status "ausländische Agenten" an der Arbeit gehindert oder als "Extremisten" auf eine Stufe mit bewaffneten Terrororganisationen gestellt und verboten.

Im Internet schritt die Regulierung wesentlich langsamer voran - teils, weil die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor sich in der Medienwelt 2.0 schlechter auskannte als im postsowjetischen Modell "Staatssender plus Loyalisten", teils, weil der russische Staat auf die im Ausland sitzenden Betreiberfirmen nur schwer Zugriff hat.

Soziale Netzwerke wurden so für russische unabhängige Medien eine Art Zensur-Umgehungsstraße, auf der sie weiter publizieren konnten - und für junge Russen, die die staatliche Medienlandschaft oft nicht einmal mehr beachteten, zur Haupt-Informationsquelle.


Das politische Potenzial von Online-Plattformen früh erkannt und geschickt genutzt hat Alexej Nawalny, der als Antikorruptionsaktivist begann und über eigene interaktive Beschwerdeseiten wie "Rospil" eine breite Öffentlichkeit erreichte. Aus Webseiten und Accounts auf Twitter, Facebook, Instagram und YouTube konnte er mit seinen Unterstützern ein ganzes Informationsnetzwerk aufbauen, das so nicht nur Demonstrationsaufrufe an Tausende verbreiten konnte, sondern sich auch durch zunehmend professionelle Polit-Kommentarbeiträge und Investigativrecherchen Einfluss verschaffte.

Im gleichen Zeitraum politisierten sich auch viele Blogger - und wurden dadurch selbst zu festen Größen in der russischsprachigen Debattenkultur: Der als Sportreporter ausgebildete Youtuber Jurij Dud etwa begann 2017, russische Musiker zu interviewen, seit 2019 veröffentlicht er auch aufwändig recherchierte Reportagen zu heiklen Themen wie der verkannten Ausbreitung des HI-Virus in Russland. Sein jüngstes Videointerview - "Wie eine Diktatur aufgebaut ist" mit der Historikerin Tamara Ejdelman - erreichte in vier Tagen neun Millionen Aufrufe.


Weltweit beargwöhnt wird YouTube für seinen unkritischen Umgang mit Verschwörungserzählungen und seinen Algorithmus, der Radikalisierung beschleunigen kann - doch in Russland ist die Plattform, nachdem der Radiosender "Echo Moskwy" abgeschaltet und die wichtigsten unabhängigen Nachrichtenmedien "Doschd" und "Meduza" endgültig blockiert sind, momentan die letzte Bastion der Informationsfreiheit.

Hier kann der russische Staat nicht mitreden - und auch wenn die Blogger dort kein "Anti-Staatsfernsehen" betreiben, wie ihnen häufig vorgeworfen wird, vermischen sie in ihren Inhalten alles, was andernorts schon totreguliert worden ist: Information und Meinung, politische Ziele und Entertainment.

Eine brodelnde Mischung, die auch für den russischen Staat zunehmend heikel ist: Machte Russland neben verbalen Vorwürfen an den YouTube-Konzern Alphabet zunächst einzelnen Youtubern den Prozess, erinnert Roskomnadsor inzwischen in Mitteilungen an seine Möglichkeit, "technische Maßnahmen zu ergreifen": YouTube sei zu einem "Instrument im gegen Russland gerichteten Informationskrieg" geworden, teilte die Behörde jüngst mit - und warf der Plattform gleichermaßen die Zensur russischer Staatsmedien wie eine "Verbreitung von Bedrohungen" an die Russen vor.

Das Handeln der YouTube-Chefs trage "terroristischen Charakter" und bedrohe das Leben und die Gesundheit der Bürger Russlands, hieß es. Nach vergleichbar heftigen Behauptungen waren in Russland jüngst Twitter blockiert und Meta, Dachkonzern von Instagram und Facebook, als "extremistisch" eingestuft und verboten worden. Für YouTube könnte es, raunen russische Netzaktivisten, schon Ende dieser Woche soweit sein.

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