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Femizide im Lockdown: Schutz vor Corona - kein Schutz vor Gewalt

Fotorechte: AFP

Lockdowns in ganz Europa ließen die Zahl von Übergriffen gegen Frauen und Mädchen in die Höhe schnellen. Strafverfolgung und Schutzangebote hinken weit hinter der Krise her, warnen EU und UN.


Für die 26-jährige Maëlys aus der Stadt Angers in Westfrankreich gab es keinen Ausweg mehr: Seit knapp einer Woche galt wegen steigender Corona-Infektionsraten in der Region schon eine strikte Ausgangssperre, als am 29. Oktober ihr 30-Jähriger Lebenspartner die Polizei anrief. Er hatte die junge Frau mit bloßen Händen erwürgt, wie die Ermittler mitteilten - vor den Augen ihrer Kinder im Alter von vier und sieben Jahren. Das ältere soll zum Fenster gelaufen und der gegenüber wohnenden Großmutter zugerufen haben: "Papa hat Maman umgebracht", berichtet ein Nachbar später der Lokalpresse.

Maëlys ist die 77. von mindestens 87 durch Partner oder Ex-Partner ermordeten Frauen in Frankreich, die Aktivistinnen seit Jahresbeginn gezählt haben. Als bekannt wurde, dass in dem Land 2019 an jedem zweiten Tag ein Femizid registriert worden war, machten die Behörden noch während der ersten Corona-Welle Schulungen für Polizisten und Justizbeamte zur Priorität, richteten mehr Plätze in Notunterkünften ein und ließen Apotheken- und Supermarktmitarbeiter so fortbilden, dass Opfer häuslicher Gewalt sich ihnen ohne hohes Risiko mitteilen können. Doch viele Maßnahmen wie ein Telefonnotruf scheiterten im Lockdown zunächst, weil Büros unbesetzt waren oder Kräfte zur Corona-Bekämpfung abgezogen wurden - eine Situation, die auch auf fast alle anderen EU-Staaten zutrifft.


"Frauen sind gewöhnlich der größten Gefahr durch Leute, die sie kennen, ausgesetzt", erklärt Carlien Schelle, Direktorin des Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE). Die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten hätten dies zwar erkannt und Maßnahmen eingeführt, die Frauen vor Gewalt durch Partner und Familie schützen sollen. "Aber die bestehende Unterfinanzierung von Unterkünften und Krisentelefonen hat zu einem lückenhaften Schutz geführt."

In der häuslichen Isolation konnten viele Frauen und Mädchen sich nicht mehr selbst schützen - und nur schwer durch Behörden oder nichtstaatliche Organisationen Hilfe holen, stellen auch die Vereinten Nationen (UN) fest: "Berichte über Gewalt gegen Frauen haben weltweit zugenommen, als weitreichende Auflagen sie zwangen, sich mit ihren Peinigern dauerhaft am gleichen Ort aufzuhalten - häufig mit tragischen Folgen", heißt es in einem Bericht der UN-Gleichstellungseinheit "UN Women".


Ein von der Europäischen Polizeiakademie CEPOL herausgegebener Bericht über die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Strafverfolgung häuslicher Gewalttaten stellt fest: Fast der Hälfte der befragten Polizeibehörden in 21 EU-Staaten sei es schwerer gefallen, mit Opfern, Tätern und Zeugen überhaupt in Kontakt zu kommen. Die Ermittlungen dauerten dadurch länger, Täter blieben länger unbestraft.

Auch in den EU-Ländern, die während des Lockdowns keine Zunahme hinsichtlich Fallzahlen, Krankenhausaufenthalten von Opfern oder Risikofaktoren verzeichneten, liegen die Werte nach einer Lockerung der Corona-Beschränkungen wieder auf dem Vorkrisen-Niveau - die Experten von CEPOL schließen daraus, dass es eine hohe Dunkelziffer an Vorfällen geben muss, die während des Lockdowns nicht zur Anzeige gebracht wurden. Die EU-Mitgliedsstaaten Belgien, Ungarn, Irland, Malta und die Niederlande hatten für den Bericht nicht einmal Daten vorgelegt.


Sowohl EIGE als auch die UN loben, dass viele europäische Länder auf Gewaltausbruch gegen Frauen und Mädchen mit Informationskampagnen und Aktionsplänen reagiert haben: In Lettland, Estland, der Slowakei und Frankreich etwa haben Opfer häuslicher Gewalt nun einen gesetzlichen Anspruch auf eine sichere Unterbringung. Tschechien kündigte an, Post- und Paketboten so zu schulen, dass sie Anzeichen häuslicher Gewalt erkennen und den Betroffenen Unterstützung anbieten können. In den Niederlanden ist die Staatsanwaltschaft angewiesen, Fällen sexueller Gewalt Priorität bei der Ermittlung einzuräumen. Griechenland führte im Zuge der Krise sogar seinen ersten ganzheitlichen Aktionsplan gegen frauenfeindliche Gewalt auf nationaler Ebene ein.


Doch während viele EU-Staaten sich längst in einem zweiten Lockdown befinden, bleibt die Umsetzung der Pläne eine Herausforderung: Eigens eingerichtete Hotlines und Notruf-Apps können nur dann helfen, wenn Betroffene sich trauen, sie in Gegenwart der Täter überhaupt zu nutzen - und er ihnen die Kommunikationsmittel nicht schon weggenommen hat.

Hilfsorganisationen wie die Betreiber von Notunterkünften wiederum seien in der ersten Welle der Krise häufig überfordert gewesen, berichtet EIGE: zum einen mit dem gesteigerten Bedarf, zum anderen mit der erhöhten Belastung durch die psychische Angeschlagenheit der Frauen - und mit dem immer bestehenden Corona-Infektionsrisiko.

Auch Polizeibehörden sahen sich laut CEPOL-Bericht der Lage nicht gewachsen. 56 Prozent aller Befragten gaben Fortbildungsbedarf zu der Frage an, wie sie mit Opfern in häuslicher Isolation Kontakt aufnehmen und halten können, die Bedrohungslage für die Frauen richtig einschätzen, wenn Hausbesuche keine Option sind - und wie sie sich beim Umgang mit Corona-Infizierten verhalten sollen.

Die Kapazitäten der meisten Staaten für solche Schulungen dürften allerdings gering sein, während Sicherheitsbeamte teils bei der Corona-Testung eingesetzt werden, Ausgangsbeschränkungen durchsetzen oder Demonstrationen begleiten sollen. Für die UN ein Grund, an die mangelnde Beteiligung von Frauen in Entscheiderpositionen zu erinnern. Die Gleichstellungseinheit fordert: "Frauen und Mädchen ins Zentrum der Vorbereitungen, Bekämpfung und Nachsorge zu stellen, könnte endlich den wirklichen Wandel herbeiführen, für den sich Frauenrechtlerinnen lange eingesetzt haben."


Der Artikel ist abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/misogyne-gewalt-101.html


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