1 subscription and 2 subscribers
Article

Bütikofer über Jamaika-Aus: „Das ist die rechteste FDP seit 1968" - WELT

Um 20.47 Uhr erzählt der Grüne Reinhard Bütikofer eine Anekdote. Kurzfristig ist der Europapolitiker am Montagabend zur Basis nach Hamburg geeilt. In der Markthalle am Hauptbahnhof, in der einst mit Obst und Gemüse gehandelt wurde und später Musiker wie Iggy Pop, Nirvana oder die Beastie Boys auftraten, plaudert Bütikofer genüsslich aus dem Nähkästchen der gescheiterten Jamaika-Sondierungen. Mehr als 350 Grüne sind zum norddeutschen Regionalforum gekommen, auf schwarzen Klappstühlen um den 64-Jährigen platziert.

In einer der Facharbeitsgruppen, berichtet Bütikofer sodann, habe ein Grüner eine Forderung vorgeschlagen. „Daraufhin fragt ein Vertreter der anderen beteiligten Parteien, was denn das für ein Quatsch sei. Und der Grüne antwortet: ‚Das ist aus eurem Programm.'" Gelächter. Der ehemalige Parteivorsitzende weiter: „Und dann sagt der andere: ‚Ich wusste doch, dass ich das schon einmal gelesen habe.'" Applaus. Es sei also „auch lustig" gewesen, „manchmal".

Grüne sind mit sich zufrieden

Mehr Amüsantes verkneift sich Bütikofer an diesem Abend. Der Altgediente, Mitglied im 14-köpfigen Sondierungsteam der Grünen, lässt stattdessen seine Wut an jenen aus, die aus seiner Sicht für das Scheitern von Jamaika verantwortlich sind - die FDP: „Ich habe den Eindruck, sie sind in dem Moment davongerannt, als sie wussten, wenn wir jetzt nicht gehen, kommt es zu einer Verabredung." Es ist eine dankbare Aufgabe für Bütikofer, die ungestüme Basis mit Realität zu füttern. Der EU-Abgeordnete ist spontan für Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck eingesprungen, der zeitgleich in Kiel die Stabilität des dortigen Jamaika-Bündnisses unter Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) zelebriert.

Und so wird der Montagabend in der Markthalle, der unter einem erfolgreichen Verlauf der Sondierungen zu einer Zerreißprobe für die Grünen hätte werden können, ein Selbstläufer. Kritik am eigenen Agieren? Fehlanzeige. „Warum auch?", fragt ein Grüner. „Wir haben die Verhandlungen nicht abgebrochen." Eine Frau betont: „Meine Vorurteile, die ich gegenüber den Liberalen habe, haben sich leider bestätigt." Und ein Dritter: „Ich hätte lieber leidenschaftlich über vereinbarte Kompromisse gestritten als über die Gründe für das Aus von Jamaika."

Sogar „stinkesauer" ist Katharina Fegebank auf „diese FDP". Der Grünen-Wissenschaftssenatorin und Zweiten Bürgermeisterin der Stadt gelingt es kaum, still auf ihrem Klappstuhl zu sitzen: „Ich würde dem Christian Lindner am liebsten zwei von seinen Plakaten auf den Nachttisch stellen", erklärt Fegebank. Das eine trage den Slogan „Nichtstun ist Machtmissbrauch", das andere „Manchmal muss ein ganzes Land vom Zehner springen". Fegebank: „Ich glaube, für ihn wäre selbst das Ein-Meter-Brett zu hoch." Ihre Grünen hingegen habe sie noch nie so geschlossen erlebt wie in den vergangenen Wochen, lobt die 40-Jährige. Das, „was wir herausgeholt haben, hätte mir Mut und Lust gemacht, auf einem Parteitag für Koalitionsverhandlungen zu streiten".

So schildert Bütikofer die Sondierungsgespräche

Und was haben die Sondierer erreicht? Bütikofer zählt die angeblichen Erfolge auf: „Wir waren uns einig, dass wir bei der Digitalisierung einen ehrgeizige Aufbruch organisieren wollen." Ferner sollten für Wissenschaft, Forschung und Bildung mehr als zehn Prozent des Bruttosozialproduktes ausgegeben werden sowie mehr als zehn Milliarden Euro für Familien und gegen Kinderarmut. Geplant war auch: mehr Unterstützung für Pflegebedürftige und Pflegepersonal.

Und weiter geht es: „Bei der Klimapolitik wäre drin gewesen, die Verabredung gesetzlich zu verankern, dass sieben Gigawatt Kohle reduziert werden und dass erneuerbare Energien wieder gefördert werden." Der Solidaritätszuschlag sollte „binnen weniger Jahre abgeschafft werden, wenn auch nicht in der kommenden Legislatur". Einig seien sich insbesondere FDP und Grüne etwa bei der Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung gewesen. Auf Wunsch der CSU wäre die Mütterrente weiterentwickelt worden.

Und nicht zuletzt wären die Grünen laut Bütikofer zu Kompromissen beim Knackpunkt Flucht und Asyl bereit gewesen. „Worauf wir aber bestanden haben, war, dass beim Familiennachzug die noch bis März 2018 laufende Aussetzung für subsidiär Geschützte fallen muss und nicht verlängert wird." Doch als sich CSU und Grüne dabei nähergekommen seien, habe FDP-Chef Lindner gedroht, die CSU „von rechts anzugreifen". Zudem hätten die Grünen darauf bestanden, dass es keine Obergrenze geben dürfe. „Und darin hat uns Frau Merkel ausdrücklich bestärkt", sagt der Europapolitiker und fügt hinzu: „Die wollte dieses Bündnis, und Seehofer auch."

„Vielleicht braucht man die FDP noch mal"

So bleibt für Bütikofer ein „bittersüßer" Nachgeschmack. Bitter, weil Jamaika gescheitert sei. Süß, weil die Grünen „eine schwierige Situation gemeistert" hätten. Die FDP indes habe sich verantwortungslos verhalten. „Die neue FDP ist die alte." Es gebe nur einen Punkt, bei dem das nicht zutreffe. „Von Genscher bis einschließlich Westerwelle war die FDP sehr proeuropäisch. Das ist die neue FDP nicht", analysiert Bütikofer. Er glaube, dass das „die rechteste FDP seit 1968 ist".

Daraus schlussfolgert der 64-Jährige: „Sauer auf die FDP? Das sind wir alle", und ergänzt nach einer kurzen Pause: „Aber das bringt ja nichts." Jetzt „ein, zwei Tage auf denen herumzuhacken" sei zwar verdient. Aber dann müssten sich alle wieder etwas Sinnvolles ausdenken. Deshalb warnt der frühere Parteichef seine Anhänger davor, die Liberalen als „neuen Supergegner zu definieren". Die Grünen dürften sich auf der neu gewonnenen Zustimmung nicht ausruhen. Stattdessen müsse gegenseitiges Vertrauen geschaffen werden, denn „vielleicht braucht man die FDP noch mal". Raunen. Bütikofer: „Das meine ich ernst."

Und er legt nach. Ebenso müsse nach außen getragen werden, was mit Jamaika möglich gewesen wäre. „Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft zum Beispiel hatte zehn Forderungen an eine neue Regierung, von denen wir neun hingekriegt hätten", glaubt Bütikofer. Sein Vorschlag am Ende des Abends? Neuwahlen, und „dann wollen wir drittstärkste Kraft werden". Seine Hoffnung? „Ich würde den Teufel tun und sagen, dass wir dann Schwarz-Grün machen, aber es wäre außerordentlich süß, wenn die Zahlen so wären, dass wir es machen könnten, wenn wir es wollten." Applaus.

Original