Sie sind gekommen, um ein Spiel zu spielen. Junge Männer fahren nach Altschauerberg und laufen den Hügel vom Ortseingang hoch zu ihrem Ziel: einem baufälligen, eierschalenfarbenen Haus, das von einem in blaue Planen gehüllten Zaun umgeben ist. Vor diesem Haus hängen die Männer herum, machen Fotos davon, inspizieren die Graffitis und Schmierereien auf der Wand, unterhalten sich über ein zerbrochenes Fenster oder das schiefe Dach, es wird viel gelacht, manche trinken Bier. Dann gehen sie wieder. Das ist das Spiel. Es heißt: Drachengame. Das erklärte Ziel: "Dem Drachen das Fürchten lehren!"
Der Drache, das ist der Bewohner des baufälligen Hauses, das unter den Beteiligten den Spitznamen Drachenschanze trägt. Im echten Leben heißt der Drache Rainer Winkler. Das Spiel, in dessen Mittelpunkt er steht, hat im Grunde nur ein Ziel: ihn zu quälen. Am 20. August erreichte das Game ein neues Level: Zwischen 600 und 800 Menschen kamen in das 40-Seelen-Nest in Mittelfranken und feierten eine Art Party: saufen, durch den Wald zu dem Haus pilgern, grölen. Der Name der Veranstaltung: Schanzenfest. Trotz Versammlungsverbots rückten die Teilnehmer an, warfen Böller, Eier und Steine, Fenster zerbrachen, eine Wiese brannte, ein Großaufgebot der Polizei sprach 300 Platzverweise aus.
Das Drachengame ist kein schönes Spiel. Es läuft schon seit Jahren, das Schanzenfest ist nur der vorläufige Höhepunkt. Und es ist alles andere als einfach zu durchschauen. Es ist ein wirrer Filz aus Langeweile, Anonymität, Geltungsdrang, Bösartigkeit, Wut und Geld. Aber es lohnt sich, hinzuschauen. Denn das Drachengame ist ein kleiner Einblick in Paralleluniversen, die im Internet immer wieder entstehen, kaum bemerkt werden und dennoch fatale Auswirkungen haben können.
Drachenlord, Lügenlord, Lustlord, RagelordDafür muss man wissen, dass das Drachengame nur zum Teil hier in Altschauerberg spielt. Hauptsächlich spielt es im Internet. Doch es ist nicht im Netz geblieben, es ist in die reale Welt hinübergeschwappt. Ein Spiel ist es spätestens nicht mehr, seit die Leute den Drachen besuchen, oder genauer: heimsuchen.
Der Ausgangspunkt ist nahezu unspektakulär. Rainer Winkler lebt alleine in dem Haus, das er von seinem Vater geerbt hat. Er nimmt Videos von sich selbst auf und stellt sie ins Netz, häufig streamt er sogar live. Das macht der 29-Jährige seit vielen Jahren, lange hauptsächlich auf YouTube und unter dem Namen Drachenlord, mittlerweile ist auch die Livestream-Plattform YouNow wichtig für ihn. Angefangen hat er mit Videos, in denen er zu Metal-Songs headbangt, er nimmt sogenannte Let's-Play-Videos auf, also Filme, die ihn beim Computerspielen zeigen. In vielen Videos erzählt Winkler aber auch einfach aus seinem Alltag oder antwortet auf Fragen seiner Zuschauer. Er ist oder war außerdem auch auf anderen Kanälen aktiv, in einem eigenen Forum und einem Kanal im Audiochatprogramm Teamspeak. So ist über die Jahre ein kaum zu überblickendes Sammelsurium an Videos und anderen Inhalten entstanden.
Wann Menschen begonnen haben, ihn systematisch im Netz zu verspotten, lässt sich nicht mehr genau sagen. Vermutlich waren von Anfang an Zuschauerinnen und Zuschauer dabei, die sich vor allem über ihn lustig machen wollten. Rainer Winkler ist übergewichtig, spricht breites Fränkisch und in den endlosen Stunden der Videos, die es von ihm gibt, finden sich eine ganze Reihe reichlich schräger Auftritte und Äußerungen. Er fabuliert ausführlich über Sexualpraktiken, verwickelt sich in Widersprüche über sein Leben; einmal hat er auf die Nutzerfrage, was er vom Holocaust halte, gesagt: "'Ne nice Sache."
Das finden einige Menschen offenbar so lustig, dass es eine Gemeinschaft gibt, die seine Videos verbreitet, kommentiert, parodiert, ihn in Blogs verspottet und eine Art Fantasiewelt um den Drachenlord herum aufgebaut hat. Sie nennen ihn Lustlord, Lügenlord und, weil er zuweilen selbst auf harmlose Anfragen aufbrausend reagiert, Ragelord. Dass es Menschen gibt, die sich mit erstaunlicher Energie daran machen, andere im Internet zu verspotten, und Spaß daran haben, anonym Zwietracht zu säen, Verwirrung zu stiften, zu beschimpfen und heftige Drohungen auszusprechen, ist nicht ungewöhnlich: Trolle und Hater gibt es nicht nur im Drachengame. Auch Politiker, Journalisten und andere öffentliche oder zufällig ausgewählte Personen trifft der Hass im Netz. Weil Winkler aber auch immer wieder auf die Angriffe reagiert, entsteht eine Spirale. Die Haider (Hater fränkisch ausgesprochen), wie er sie in seinen Videos nennt und sie sich deshalb mittlerweile auch selbst, haben Spaß daran, ihn zu piesacken und zu sehen, wie er darauf als Nächstes reagieren wird.
Das meiste, was sie dabei ins Netz stellen, ist pubertärer Blödsinn, etwa ausführliche, kommentierte Zusammenfassungen seiner Videos. Aber dabei bleibt es nicht. Manche der Hater spielen ihm grausame Streiche, wie die Userin Erdbeerchen1510, die er im Internet kennenlernte, und die ihn dazu brachte, ihr einen Antrag zu machen, um ihn dann vor laufender Kamera auszulachen und zu beschimpfen. Jemand schickte Winkler 2015 mit einem Fake-Notruf die Feuerwehr ins Haus, während der livestreamte - der Anrufer, Alexander S., wurde auch wegen anderer Vergehen zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Doch es gibt auch heftige verbale Angriffe. Manche raten ihm online, "ins Gas zu gehen". Und einmal drohte jemand seiner Schwester telefonisch.
"Ich prügel die Scheiße aus euch raus!"Als Reaktion darauf stellte Winkler einen mittlerweile berühmt gewordenen Clip ins Netz: Mit aufgerissenen Augen kommt er immer näher an die Kamera, brüllt, jeder, der sich mit ihm anlegen wolle, könne ja kommen. "Ich prügel die Scheiße aus euch raus!" Dann nennt er seine Adresse. Straße, Hausnummer, Postleitzahl.
Und so fand das Drachengame seinen Weg aus dem Internet schließlich ins echte Leben, nach Altschauerberg. Ein Ort, der nur eine Straße ist, an der ein paar Häuser stehen. Gepflegte Vorgärten, geschnittene Hecken, ein altes Bauernhaus mit Scheunentor und Fachwerk. In den Häusern leben Menschen, die von YouTube-Phänomenen weiter nicht entfernt sein könnten. Auch sie sind nun Teil des Games, mindestens als Zuschauerinnen und Zuschauer, aber auch sie werden gefilmt, hören die nächtlichen Rufe, sehen die Bierflaschen.