Fragt man Meyolotzin Abrajan, ob sie sich eher als Mexikanerin oder Amerikanerin bezeichnen würde, antwortet sie mit einigem Nachdruck: "Ich fühle mich wie eine Mexikanerin." Dieses Empfinden deckt sich mit dem offiziellen Status - 1988 wurde Abrajan in Cholula in geboren und migrierte im Alter von 18 Monaten mit ihren Eltern nach New York; ihr jüngerer Bruder wurde dort geboren und ist somit offiziell US-amerikanischer Bürger. Der Aufenthaltsstatus von Abrajan aber ist immer in der Schwebe.
Das bedeutet aber nicht, dass man sie einfach nach Mexiko abschieben könnte, weder moralisch noch rechtlich. Abrajan gehört zu den Personen, die in den USA als " Dreamers" bezeichnet werden, junge Menschen, die in einem anderen Land geboren sind und als Minderjährige illegal in die Vereinigten Staaten einwanderten, wo sie aufwuchsen, sozialisiert wurden und heute bis zu einem gewissen Grad am öffentlichen Leben teilhaben können. Sie dürfen arbeiten (allerdings ohne ein Recht auf Mindestlohn) oder zur Schule gehen - jedes Jahr schließen Schätzungen zufolge fast 100.000 dieser " undocumented immigrants" die High School ab. Es war auch in der High School, dass sich Meyolotzin Abrajan erstmals ihres Sonderstatus bewusst wurde. Das Abschlussjahr war hart für sie, wie sie berichtet: "In meiner gesamten Schule gab es nur fünf Mexikaner, von denen ich die einzige Undokumentierte war. Als ich mich fürs College bewerben wollte, wurde mir klar, dass ich, obwohl ich aus einer einkommensschwachen Familie stamme, keinen Antrag für staatliche Unterstützung stellen durfte. Und Colleges sind sehr teuer."
Ihre Schulzeit war für Abrajan in persönlicher wie aktivistischer Hinsicht prägend. Hier begann sie erstmals, sich tiefer mit ihren mexikanischen Wurzeln auseinanderzusetzen - bis auf einen dreiwöchigen Aufenthalt in Mexiko hat sie keinerlei Erinnerungen an ihr Geburtsland. Doch nicht zuletzt durch die Geschichten, die in der Familie erzählt wurden, baute sie eine starke Bindung zu Mexiko auf. "In den USA zu leben, fühlt sich wie ein ständiger Kampf an", resümiert sie nüchtern. Und so begann sie, sich politisch zu engagieren, nahm an Protesten und Hungerstreiks teil, etwa als der sogenannte DREAM Act scheiterte, ein Gesetzentwurf, auf den die Bezeichnung Dreamer zurückgeht. Jener DREAM Act hätte den Weg zu unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen der Undokumentierten geebnet.
24 Monate Schutz vor Abschiebung2012 dann wurde unter Barack Obama DACA eingeführt, Deferred Action for Childhood Arrivals, zu Deutsch etwa "Aufgeschobene Maßnahmen bei Ankunft in der Kindheit". DACA kann als eine sehr abgespeckte Version des DREAM Act angesehen werden. Die Bewerber*innen müssen bis Juni 2007 und im Alter von höchstens 16 Jahren in die USA gekommen sein, sich seitdem durchgehend in dem Land aufgehalten und keine Einträge im Strafregister haben. Die akzeptierten Teilnehmer*innen sind für 24 Monate vor einer Abschiebung geschützt, bekommen eine Arbeitserlaubnis und dürfen ihren Führerschein machen, müssen das DACA aber biennal neu beantragen - jedes Mal mit einer Gebühr von 495 Dollar und ohne die Garantie, den Schutzstatus wieder genehmigt zu bekommen. Laut den U.S. Citizenship and Immigration Services wurden bis zum 31. Dezember 2019 insgesamt 825.000 DACAs erteilt, 650.000 davon waren zu dem Zeitpunkt noch aktiv.
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Meyolotzin Abrajan war zunächst wenig begeistert von DACA. "Ich war so aktiv in der Bewegung, die sich für die Verabschiedung des DREAM Act einsetzte, dass mich DACA sehr enttäuschte", erläutert sie ihren Frust. Es dauerte fast zwei Jahre, bis sie sich für das Programm bewarb. "DACA fühlt sich an, als würde ich betteln. Dabei arbeitete ich zu diesem Zeitpunkt schon und zahlte Steuern. Es ist alles so ermüdend." Dass sie sich dennoch um ein DACA bemühte, hat mehr mit der Außenwahrnehmung zu tun: "Es ist eine Art Anerkennung seitens der Regierung. Und eine Bestätigung für sie, dass ich mich an die Regeln halte."