Nicht hoch, aber anstrengend: Bouldern heißt Klettern in Absprunghöhe. Erste Erkenntnis unserer Autorin Isabell Prophet: Weniger Höhe macht es nicht weniger schwierig. Tritt für Tritt - jeder Versuch bringt sie ein wenig voran. Denn Bouldern heißt auch: Probleme suchen und sie lösen.
Die Finger meiner rechten Hand kapieren zuletzt, dass sie verloren haben. Sie krallen sich in einen schwarzen Griff. Ich sehe meine Hand gar nicht; an dieser Stelle wollte ich um eine Ecke herumklettern. Aber meine Füße sind längst weggerutscht, meine linke Hand wurde aus ihrem Halt gerissen und jetzt hängt mein Körpergewicht an meinen Fingerspitzen. Mein Schultergelenk wird hart nach oben gedreht, dann kapitulieren meine Finger. Ich falle. Etwa einen Meter tief.
Bouldern ist Klettern auf Absprunghöhe. Das macht es nicht einfacher.
An fast jedem Dienstag treffen sich die Boulderer in der großen Halle der CD-Kaserne. Dann lösen sie Matten von den Wänden, bauen Tisch und Bank auf, klappen große Drehwände um. Die Matten kommen auf den Boden und in wenigen Minuten ist die Kletterwand bereit. Hans-Ulrich Wessel kümmert sich um die Anfänger. Wie mich.
Am Fels habe ich schon mal gehangen, an einer Boulderwand noch nie. Kann so schwer nicht sein? Ohje.
Was die anderen machen, das sieht verdammt schwer aus. Ich stehe vor der Wand, Hans erklärt mir die Grundregel: „Nicht die Füße brechen." Das war jetzt erst einmal das wichtigste, ich werde es beherzigen. An der blauen Linie in etwa drei Metern Höhe ist erst für den Anfang Schluss für mich.
Ich fange einfach mal an. Hans klettert vor, ich hinterher. An die kleinen Tritte traue ich mich nicht heran, manche sind nur so groß wie ein halbes Ei. Konsequenz: Ich klettere höher, als ich eigentlich will. Machbar ist es trotzdem. Hans klettert um zwei Ecken, ich scheitere an der zweiten.
Stolz bin ich trotzdem. Nach fünf Minuten ist klar: Das gibt Muskelkater. Meine Finger, meine Arme, meine Schultern, mein Rücken. Und eigentlich sollte ich die Füße mehr belasten, als die Hände. Das üben wir noch mal.
Die Kletterwand zieht sich über die ganze Rückwand der großen Halle in der CD-Kaserne und ein wenig an die Seiten. Hier kann um Ecken geklettert werden und an Schrägen.
Und eine der Schrägen hat es mir bald angetan. Ich darf nur die schwarzen Griffe und Tritte benutzen, mein Ziel liegt in etwa vier Metern Höhe. Unerreichbar, vorerst.
„Plastikklettern", nennen die Boulderer das Klettern an der künstlichen Wand. Die Griffe sind fest, fühlen sich an wie Stein. In Wahrheit bestehen sie aus einer Kunststoffmischung.
1968 baute der Deutsche Alpenverein (DAV) einen „Kletterbrocken" in München. Erst in den Achtzigern setzten sich die Wände durch. 1988 wurde in Garmisch-Partenkirchen die erste Boulderhalle eröffnet.
„Wir benutzen die Routen der Seilkletterer", erläutert Hans. Die Boulderer definieren sich eigene Strecken, denen sie dann folgen. Sie schaffen sich Probleme, um sie dann zu lösen.
Mein linker Fuß stützt mich an der grauen Wand, die im rechten Winkel hinter mir ist. Rechts von mir knickt die gelbe Wand nach vorn weg. Aber so weit bin ich noch nicht. Beide Füße stehen auf jenen Tritten in der Größe halber Eier. Ich gebe zu: Auch auf denen kann man stehen. Der rechte Fuß muss hoch, neben meinem Knie ist ein größerer Tritt. Dieser „Move", diese Bewegung ist die pure Überwindung. Eigentlich muss ich nur ein Bein heben. Es fühlt sich an, als müsste ich mein ganzes Körpergewicht hochwuchten. Unsinn. Eigentlich. Klettern ist Kopfsache, anders gesagt: Überwindung.
Im gefühlt fünfzehnten Versuch klappt es. Ich stehe. Endlich reiche ich mit meiner linken Hand an den Griff heran. Mit der rechten müsste ich jetzt um die Ecke greifen. Irgendwo da hinten muss noch ein schwarzer Griff sein. Grüne und rote sind auch da, sie sind näher. Ich sehe sie gar nicht mehr. Ich taste nach dem schwarzen. Und falle.
Schwer atmend lande ich auf den Füßen. Meine Fingerspitzen brennen, meine Unterarme sind schwer. Ich starre die Wand an, die sich über mir schräg neigt. Da, hinter der Ecke, da ist der Griff. Er liegt auf der blauen Linie, in drei Metern Höhe. Beim nächsten mal weiß ich Bescheid.
Die beiden Startgriffe für meine Finger habe ich gründlich mit Magnesia bestaubt. Das weiße „Chalk" soll meine Finger trocknen. Wann immer ich losklettere, bleibt auf den ersten Griffen ein wenig zurück. Und natürlich sollte ich auch meine Hose weißen, das sieht professioneller aus.
Klappt aber nicht, sie ist hellgrau. Merlin und Kerstin schütteln missbilligend die Köpfe und ich wische die Finger schuldbewusst an meinem schwarzen T-Shirt ab. Schon besser.
Kerstin klettert schon seit Jahren. Wie Spiderman hängt sie bald in der Ecke. Sieht leicht aus. Ich schaue mir vor allem ihre Fußbewegungen ab. Denn eigentlich sollte ich nicht versuchen, mein ganzes Gewicht an meine Fingerspitzen zu hängen. Auf den Füßen steht es sich ja so viel besser. Es geht nicht um Kraft, es geht um Technik. Beim nächsten Versuch drücke ich mich von der Wand zu meiner Linken ab und greife zielsicher nach dem Griff hinter der Ecke. Und dann freue ich mich so sehr darüber, dass ich herunterfalle. Na gut. Aber die „Topgriffe", mein Ziel, sind gar nicht mehr so weit entfernt.
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