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Der tunesische Sonderweg

Wahllokal in Tunis

Beinahe vier Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings ist die arabische Welt zunehmend von Staatsverfall, Bürgerkriegen und Reautokratisierung gekennzeichnet. In Syrien, Libyen und im Jemen toben Bürgerkriege, während sich in Ägypten, Algerien, Bahrain und Jordanien die Autokraten mit repressiven Mitteln an der Macht halten. Allein Tunesien bleibt bislang ein Leuchtturm der arabischen Aufstände.

Nach den ersten Protesten im Süden des Landes steht das Ursprungsland der Protestbewegung mit einem friedlichen und inklusiven Transformationsprozess heute allein in der Region. Diese Entwicklung kann kaum hoch genug geschätzt werden. Denn trotz aller kritischen Entwicklungen hat das Land eine weitestgehend friedliche und demokratischen Prinzipien folgende Transformation bewerkstelligt.

Zu Beginn des Jahres wurde nach einem langwierigen Prozess die neue Verfassung verabschiedet. Diese setzt die Eckpunkte für ein neues demokratisches Post-Ben-Ali-Tunesien. Die Ende der Woche anstehenden Parlamentswahlen läuten dabei die nächste Phase des Transformationsprozesses ein. Doch bei aller Freude über die positive Ausnahme Tunesien steht das Land vor enormen Herausforderungen. Die bedeutendsten Aufgaben warten auf die Regierung in Tunis in den Bereichen Sicherheit und Ökonomie sowie in der Konsolidierung des Demokratisierungsprozesses.


Alte Kräfte, neue Gefahren


Bei allen Erfolgen des politischen Transformationsprozesses und der Übergangsjustiz wurde der Sicherheitssektor seit dem Sturz des Ben-Ali-Regimes beinahe sträflich vernachlässigt. Dabei ist das Problem weniger das Militär, als vielmehr die Polizei und die Geheimdienste, die unter Ben-Ali den Großteil der Repressionen verübten. In diesem Bereich gab es bisher punktuelle Verbesserungen aber keine umfassenden Reformbemühungen. Doch eine Reform des Innenministeriums sowie der Polizei und der Geheimdienste ist unabdingbar, um das Verhältnis zwischen ausführenden Organen und der Bevölkerung auf eine neue Basis zu stellen. Dies kann nur durch eine glaubwürdige Veränderung und eine neue Organisationskultur im internen Sicherheitsapparat erreicht werden: Er muss endlich demokratischen Prinzipien entsprechen. In diesem Zusammenhang steht auch eine Überarbeitung der Anti-Terror-Gesetzgebung an, die Ben-Ali nutzte, um Oppositionelle und politische Gegner zu tyrannisieren. 

Umfassende Reformen im Sicherheitssektor sind außerdem dringend notwendig, da sich Tunesien zunehmend in einem unsicheren und von Gewalt geprägten Umfeld befindet. Aus Libyen sind inzwischen über eine halbe Millionen Flüchtlinge eingetroffen. Die Grenze - vor allem im Süden des Landes - ist mitnichten umfassend unter staatlicher Kontrolle. Besonders der Waffenhandel ist aufgrund der Konflikte in den Anrainerstaaten ein großes Problem.

Darüber hinaus sind nach offiziellen Angaben bereits mindestens 3000 tunesische Staatsbürger nach Syrien oder in den Irak gereist, um sich dort dem „Heiligen Krieg" anzuschließen. Tunis geht davon aus, dass sich 80 Prozent dieser Kämpfer dem sogenannten Islamischen Staat (IS) angeschlossen haben. Damit stellen tunesische Staatsbürger den größten Anteil ausländischer Kämpfer in den Reihen des IS. Die Tendenz dieser Entwicklung ist weiterhin steigend. Die kampferprobten und radikalisierten Kämpfer dürften nach ihrer Rückkehr nicht nur für Tunesien ein massives Sicherheitsproblem darstellen. Sie durch den Sicherheitsapparat zu überwachen und zu verfolgen, würde lediglich das Symptom und nicht die Ursache bekämpfen. Um den Exodus von radikalisierten jungen Menschen effektiv zu unterbinden, muss vor allem Aufklärungsarbeit in enger Zusammenarbeit mit den religiösen Instanzen des Landes erfolgen.


Ungeklärte soziale Konflikte

Abgesehen von den ressourcenreichen Ölstaaten ist Tunesien in der arabischen Welt das Land mit dem höchsten BIP pro Kopf. Doch das Wirtschaftswachstum hat im nachrevolutionären Tunesien deutlich an Schwung verloren. Dies ist besonders besorgniserregend, da viele Experten die Auslöser des Arabischen Frühlings zu Recht primär in sozioökonomischen Ungleichheiten verorten. Bekanntlich richteten sich die Slogans zu Beginn der Protestwelle weniger gegen das Regime als vielmehr gegen die negativen Auswirkungen dieser Machtstrukturen auf die Gesellschaft: Es ging um Brot, Würde und Gerechtigkeit. Das galt sowohl für Tunesien als auch für die meisten anderen Staaten der Region, die im Laufe von 2011 Proteste durchlebten. Diese zugrundeliegenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme sind bisher im tunesischen Transformationsprozess zugunsten der Verfassungsausarbeitung und der politischen Transformation vernachlässigt worden.

Die Perspektivlosigkeit der jungen, oft gut ausgebildeten Generation am Arbeitsmarkt ist eine der größten Herausforderungen für jede neue Regierung in Tunis. Sie hat sich seit dem Sturz des Regimes Ben-Ali jedoch kaum verbessert. Ein Blick auf die demographische Zusammensetzung Tunesiens genügt, um die Bedeutung und das Ausmaß dieses Problems deutlich zu machen: Knapp 40 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre. Unter den 15- bis 25-Jährigen waren im Jahr nach der Revolution mindestens 40 Prozent arbeitslos. 2007 - also vier Jahre vor der Revolution - hatte die Jugendarbeitslosigkeit bei 28 Prozent gelegen. Insbesondere hochqualifizierte junge Tunesier haben Schwierigkeiten, Arbeit zu finden.


Trotz des damit verbundenen sozialen Sprengstoffes hat es das Thema bislang kaum auf die politische Agenda geschafft. Der öffentliche Fokus war stets auf die Verfassungsgebung und die Wahlgesetze gerichtet. So ist das Thema Jugendarbeitslosigkeit bislang kaum mehr als eine Randerscheinung in der politischen Debatte. Dabei muss es gerade darum gehen, einen Generationenkonflikt zu vermeiden und die jungen Menschen, die von besonderer Bedeutung für den Sturz Ben-Alis waren, mit ins Boot zu holen. Wichtig wäre es daher, vor allem dieser Generation langfristig Partizipationsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen.

Obwohl nach der Revolution auch viele junge Tunesier Parteien beigetreten sind, ließ die Anfangseuphorie schnell nach. Viele waren enttäuscht über die stiefmütterliche Behandlung durch die älteren Eminenzen in den Parteien. Die Jugend bleibt daher vor allem in zivilgesellschaftlichen Foren organisiert. Studentengewerkschaften verschiedener Couleur haben nicht nur während des Ringens um die Reform des Universitätsreglements 2013 durch wiederholte Proteste auf sich aufmerksam gemacht. Seit 2011 ist geradezu ein Boom der jugendlichen Nichtregierungsorganisationen zu beobachten gewesen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern die Politik Willens und in der Lage ist, die junge Generation und ihre Forderungen zu integrieren.

Die Jahrzehnte andauernde Vernachlässigung der Inlandsregionen, vor allem im Süden Tunesiens, und die daraus resultierende ökonomische Spaltung des Landes dürften eine weitere Herausforderung für die neue Regierung darstellen. Die Frage ist jedoch, ob sich die Regierung dieser annehmen wird. Denn hinter der Herausforderung steht ein zentrales Problem für das neue politische System und die politischen Eliten: Letztlich geht es darum, eine neue Umverteilungsformel zu vereinbaren, die eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung der Peripherie ermöglicht.

Ob jedoch eine Förderung der südlichen Peripherie Tunesiens trotz der nach wie vor zentralistischen Staatsausrichtung ernsthaft angegangen wird, bleibt offen. Die Regierung sollte dabei nicht den Fehler des Ben-Ali Regimes wiederholen und sich alleine auf Tunis und die Küstenregion konzentrieren. Denn schließlich begannen die Proteste des Arabischen Frühlings im Dezember 2010 nach dem Selbstmord von Mohammed Bouazizi nicht ohne Grund in Sidi Bouzid, bevor sie ihren Weg in die Hauptstadt fanden.


Verfassungstext mit Leben füllen

Trotz des politisierten und langwierigen Verfassungsprozesses ist durch die Inklusion verschiedener Kräfte eine Einigung erfolgt. Nach mehreren Krisen, ausgelöst durch die Ermordung zweier prominenter Abgeordneter aus dem linken Parteispektrum durch die Hand islamistischer Extremisten, einigte man sich in der verfassungsgebenden Versammlung (ANC) auf die Etablierung einer Technokraten-Regierung zur Vorbereitung der Wahlen. Nach steigendem Druck seitens der Zivilgesellschaft und einer Vermittlung durch die Gewerkschaften im Rahmen eines nationalen Dialogs ist die im Frühjahr beschlossene Verfassung die wohl progressivste ihrer Art in der gesamten Region. Bei zentralen Themen wie Gleichberechtigung, Religionsfreiheit und dem Schutz politischer Freiheiten und Grundrechte setzt der Verfassungstext in der Tat Meilensteine.

Nichtsdestotrotz bleiben Widersprüche und Unklarheiten bestehen. Insbesondere der Widerspruch zwischen dem in der Verfassung angelegten „Blasphemieverbot" und der Meinungs- und Pressefreiheit ist auffällig. Es wird entscheidend auf die politischen Akteure ankommen, wie in relevanten Fällen mit der Klärung dieses Widerspruches umgegangen wird. Dabei wird besonders die Nahda als islamisch-konservative Partei und vermutlich stärkste Kraft im neuen Parlament entscheidend sein.

Im Verfassungsprozess zeigte sich die Partei nach langem Ringen um die Formulierungen zur Rolle des Islams am Ende kompromissbereit. Dies war allerdings auch auf den hohen politischen Druck von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft außerhalb der Versammlung zurückzuführen. Ob diese Praxis auch in den kommenden Debatten um den Schutz der Religion Schule macht, bleibt abzuwarten. Eine zentrale Rolle in dieser Sache wird auch dem neu etablierten Verfassungsgericht zukommen, welchem die Auslegung und somit die Interpretation des Verfassungstextes obliegt.

Der Transformationsprozess in Tunesien hat sich bisher vor allem auf Tunis und die nationale Ebene konzentriert. Dass dreieinhalb Jahre nach dem Sturz Ben-Alis immer noch keine kommunalen Vertretungen gewählt wurden, stößt vielen Bürgern sauer auf. Die lokalen Administrationen sind die staatlichen Institutionen, mit denen die tunesische Bevölkerung den direktesten und häufigsten Kontakt hat. Viele Bürger sind frustriert, dass sich die alten Kader Ben-Alis dort in ihren überkommenen Positionen gehalten haben, oder dass sich dort Revolutionäre auf illegitime Weise breit gemacht haben.

Vor allem in ländlichen Regionen finden sich alte Regime-Kader oder selbsternannte Revolutionskomitees in den Rathäusern. Die Legitimation dieser Lokalregierungen ist in der Regel nicht durch Wahlen erfolgt. Den Transformationsprozess auch systematisch auf die lokale Ebene zu übertragen und tatsächlich bis in die ländlichen Regionen zu tragen, ist somit eine weitere Herausforderung für die neue Regierung in Tunis.


Steiniger Weg der Demokratisierung

Tunesien ist auf einem guten Weg, aber das Land steht weiterhin vor großen Herausforderungen. Eine sich verschlechternde Sicherheitslage in Tunesien könnte den bisherigen politischen Fortschritt zunichte machen. Zugleich wird das von Gewalt und Staatszerfall geprägte regionale Umfeld Tunesiens den Weg Richtung Demokratie mit Sicherheit nicht einfacher machen.

Die ökonomischen und politischen Probleme, speziell des Institutionengefüges in der Verfassungswirklichkeit, müssen angegangen werden. Dabei wird es auch um die Auslegung von Befugnissen in den jeweiligen Positionen gehen. Auch wenn Tunesien bislang aufgrund der erfolgreichen ersten Etappe die Hoffnung einer erfolgreichen Demokratisierung nach den arabischen Aufständen darstellt, ist der Transformationsprozess noch lange nicht vorbei.

Eine ausgeweitete wirtschaftliche Kooperation mithilfe von Entwicklungs- und Investitionsprogrammen kann dazu beitragen, die ökonomische Entwicklung in Tunesien zu stimulieren und dadurch auch für eine Verbesserung der Arbeitsmarktsituation führen. Darüber hinaus sind auch öffentlich finanzierte Austauschprogramme für junge Absolventen aus Tunesien im europäischen Privatsektor denkbar. Diese können in Verbindung mit Mikrokreditinitiativen zum einen kurzfristig den Druck auf dem Arbeitsmarkt unter den Hochschulabsolventen verringern und zum anderen im Idealfall zu Unternehmensgründungen führen.

Im Sicherheitssektor besteht Bedarf an internationaler Zusammenarbeit, um die Sicherheitsprobleme in den Griff zu bekommen. Dabei geht es zum Teil um materielle Unterstützung in Form von Gerät -vor allem zur Grenzsicherung- aber mindestens ebenso bedeutend ist der Transfer von Know-how durch beratende Begleitung anstehender struktureller Reformen der internen Sicherheitskräfte. Dabei kommt es vor allem auf die Etablierung effektiver politische Kontrolle der reformierten Organisationen durch das Parlament und die Regierung an. Außerdem könnten Professionalisierungsmaßnahmen für die Sicherheitskräfte zur Verinnerlichung rechtsstaatlicher Prinzipien beitragen.

Der politische Transformationsprozess sollte weiterhin durch eine intensive Förderung der Zivilgesellschaft und Schulungen im Medien- und Rechtsbereich unterstützt werden. In diesen Bereichen lokale Akteure dazu zu bewegen, eine öffentliche, kritische Begleitung des Transformationsprozesses zu gewährleisten, wird positive Auswirkungen auf den weiteren Verlauf haben. Die interparlamentarische und intergouvernementale Zusammenarbeit sollte durch bilaterale Abkommen und auch im Rahmen gesamteuropäischer Anstrengungen nach der Konstituierung der neuen Institutionen intensiviert werden.

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