Dr. Helga Wäß schreibt exklusiv für Boulevard Schwan in der Rubrik „Art Tours“, Interview Teil 1
KUNST ERFRISCHT WIE ZITRONENEIS AN EINEM SOMMERTAG
Kreative Kunstexpertin: Dr. Helga Wäß
Foto: Dimitri Davies
Liebe Frau Dr. Wäß, Sie leben sozusagen für die Kunst, woher kommt Ihre Leidenschaft für das Kunstparkett?
Dr. Helga Wäß: „Das ‚Kunstparkett’ – übrigens eine schöne Wortschöpfung – wird von mir schon einige Jahrzehnte belaufen. Und das meine ich genau so, denn Kunst sehen, heißt, sich zu bewegen, körperlich und geistig. Ich bin ein Augenmensch, bereits in der Kindheit war ich häufig in Museen und Gemäldegalerien unterwegs."
... hier mit Franco Fontana in Galerie Stephen Hoffman
Dr. Helga Wäß: „Ja, man kannte mich dort, und so durfte ich bei Führungen durch die Ausstellungen immer mitlaufen, was sehr spannend war. Die Liebe und Leidenschaft für die Kunst bekam ich dann durch gute Lehrer im Kunstunterricht, den Leistungskurs Kunst im Abitur und schließlich durch das Studium der Kunstgeschichte, der Mittleren und Neueren Geschichte, der Europäischen Ethnologie und zeitweise auch der Publizistik ein gutes Fundament. Und weil ein kreativer Geist immer Input braucht, belegte ich nach der Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität - dann als Gasthörerin – noch Marketing und besuchte Kurse wie Elektronisches Publizieren, Öffentlichkeitsarbeit/PR."
Was gehört alles zu Ihren Aufgaben?
Dr. Helga Wäß: „Meine Aufgaben im Kunstbereich meinen Sie? Nun, die stelle ich mir selbst. Und wenn sie an mich herangetragen werden, dann stelle ich mich ihnen. Denn so manches Mal findet die Kunst dich! Ich setze mich gern mit allen Genres, den Inhalten, Stilen, Gattungen wie Malerei, Skulptur oder Performance und allen Epochen der bildenden Kunst auseinander. Neues und Unbekanntes gilt es einzuordnen, Bezüge herzustellen und zu diskutieren. Aus dieser Vielfalt ergibt sich eine sehr abwechslungsreiche und spannende Tätigkeit. Es wird nie langweilig, und ich kann meine Talente ausleben."
Woran erkennen Sie ein gutes Bild beziehungsweise einen guten Künstler?
Dr. Helga Wäß: „’Gut’ ist relativ. Für mich ist die Aussage eines Werkes wichtig. Was möchte mir der Künstler mit seinen visuellen Mitteln sagen? Finde ich mehr außer Farbe und Leinwand, ist da etwas, das mir Fragen stellt oder mich zur Auseinandersetzung anregt?"
Was sind dabei Ihre Kriterien?
Dr. Helga Wäß: „Nun, hierfür hat sich im Verlauf vieler Jahrzehnte ein Hintergrundwissen aufgebaut, das gerne an seine Grenzen gebracht wird. Wenn es ein Kunstwerk zu verstehen gilt und vielschichtige Informationen herangezogen werden müssen, dann wird es erst richtig spannend."
Wann ist ein Bild für Sie künstlerisch wertvoll?
Dr. Helga Wäß: „Es muss seinen Betrachter anziehen, herausfordern und zum Nachdenken anregen."
Was fasziniert Sie so sehr an Kunst?
Dr. Helga Wäß: „Sie versucht, mit der Sprache des Visuellen die Welt zu erklären. Künstler sind Menschen, die nach anderen Ausdrucksformen suchen und irgendwann spüren, dass sie diese Leidenschaft leben müssen, um ihren wahren Lebenssinn zu leben. Und so entstehen aus diesen anderen Lebenskonzepten Kunstwerke, die über Jahrhunderte oder Jahrzehnte zu ihren Betrachtern sprechen. Faszinierend!"
Mit Giacomo Incorvaia in der Galerie Stephen Hoffman
Schlägt Ihr Herz denn mehr für die Alten Meister oder für Zeitgenössisches?
Dr. Helga Wäß: „Wenn ich eine Zeit lang mit der einen oder anderen Epoche beschäftigt war, dann ist der Blick in das Zeitgenössische wie ein erfrischendes Zitroneneis an einem heißen Sommertag. Umgekehrt wird man durch die Alten Meister sozusagen geerdet, wenn man mehrere Monate in Sachen Zeitgenossen unterwegs war. Man kehrt zu den Ursprüngen des künstlerischen Schaffens zurück."
Haben Sie das schon erlebt?
Dr. Helga Wäß: „Ja. In Saarbrücken habe ich im Saarlandmuseum ‚Die Magie der Landschaft’ gesehen, zuvor war ich kurz in Hannover zur ‚Entdeckung der Landschaft’ im Landesmuseum. Und wenn man dann zurück in die Alte Pinakothek kommt, dann hat man für die dort ausgestellten Landschaftsgemälde einen neuen Blickwinkel erarbeitet. Von soviel Landschaftsein- und –ausblicken kann man dann gestärkt in den zeitgenössischen Münchner Kunstherbst schreiten."
Welche Ausstellungen sollte man in den nächsten Wochen unbedingt besuchen?
Dr. Helga Wäß: „DAS Highlight für München ist der Start in den Kunst-Herbst: die Open Art 2011. Stellen Sie sich vor, ein einem einzigen Wochenende haben wir in München 65 Vernissagen mit über 100 Künstlern. Das wird spannend. Das ist ‚München zeitgenössisch’! Und weil man bestimmt nicht alle Ausstellungen schafft, freue ich mich auf die Galeriebesuche in den Wochen danach, denn die Ausstellungen laufen teilweise bis gegen Ende Oktober oder sogar bis in den November hinein."
Arbeiten Sie auch mit der Stadt München zusammen?
Dr. Helga Wäß: „Nein, aber hier und da hat man Kontakt, wenn es um Kunstprojekte geht."
Denkt man an München, fällt natürlich auch das Stichwort „Blauer Reiter", die wohl bekannteste Künstlervereinigung schlechthin, die hier ihre Wurzeln hat. Gibt es heute eigentlich auch noch solche Künstlervereinigungen?
Dr. Helga Wäß: „Ja. Immer wieder schließen sich Künstler zusammen. Wir hatten die Gruppe Spur oder die Gruppe Zero. Auch deren Kunstwerke sind inzwischen gesuchte Sammelobjekte, und wenn wir den Kunstmarkt betrachten, mit steigendem Potential."
Was würden Sie sich in Bezug auf Kunst für München wünschen?
Dr. Helga Wäß: „Dass noch mehr Besucher die vorhandene Kunstlandschaft an Museen und Galerien nutzen. Stellen Sie sich vor, ich sprach neulich mit Eltern, deren Kinder noch nie im Museum waren. Das sollte sich unbedingt ändern!"
... mitSkulptur ESEL des 18. Jahrhunderts bei Georg Urban
Foto: Andreas Wäß
Dr. Helga Wäß: „Sich einfach einzulassen und auch Gefühle zuzulassen. Es wäre auch schön, wenn mehr Münchner wieder zu Sammlern werden! Denn jeder Sammler sichert den Kunststandort München für die Galeristen, die mit Herzblut ihre Künstler präsentieren, und damit natürlich auch für die Künstler, die freier malen können, wenn ihre Existenz gesichert ist. Und das Gefühl, ein Original in den eigenen vier Wänden sein Eigen nennen zu können, muss man erlebt haben. Denn ein Original, ist ein Original, ist ein Original! Es verändert den Raum und gibt ein neues Lebensgefühl."
Hat Künstlerdasein heute auch noch etwas von Carl Spitzwegs „Armen Poeten"?
Dr. Helga Wäß: „Überleben als freischaffender Künstler ist und war immer schwierig. Denn jedes Kunstwerk lebt erst durch seinen Betrachter und jeder Künstler erst durch seinen Sammler. Ein starres Kunstwerk entschleunigt unseren Blick, und ein Artefakt von einer Performance zum Beispiel hält einen erlebten und unwiederbringlichen, schöpferischen Augenblick fest, der in der Erinnerung immer wieder die gesamte Performance fassbar macht. Eine Lichtinstallation schafft neue Wahrnehmungsebenen, und Videokunst ist in ihrer ständigen Wiederholung auch so etwas wie die etwas längere Sequenz eines Moments. Zeit wird erfahrbar, Wahrnehmung verändert! Ein Gemälde des 19. Jahrhunderts schafft wieder ganz andere Wahrnehmung und Erfahrungsmuster. Egal aus welchen Gründen man Kunst ansieht, wichtig ist, dass man sie in sein tägliches Leben einbaut. In dieser neuen, durch ein Kunstwerk ergänzten Lebensqualität findet sich für viele der Grund zum Sammeln von Kunst. Dies ist übrigens einer der Gründe, warum Galeristen geradezu leiden, wenn sie sich von einem für sie wichtigen Kunstwerk trennen müssen."
Äh, Galeristen leiden?
Dr. Helga Wäß: „Ja. Sie sind nämlich häufig leidenschaftliche Sammler. - Doch zurück zum 'armen Poeten': Kultur- und Kunstschaffende wissen, dass sie keinen Beamtenberuf ergreifen, doch aufgrund ihrer inneren Triebfeder können sie nicht anders. Der Schaffensprozess und damit das Werk an sich ist ein Stück ihres Lebens, ihrer Lebenszeit und ihrer Innerlichkeit. Dies ist dann übrigens auch ein Grund dafür, warum Künstler oft geradezu leiden, wenn Sie sich von einem Werk trennen müssen."