5. Juni 2019, 17:37 Uhr
Frankreich:Aufatmen in Paris
Die neun Kreise der Radfahrer-Hölle befinden sich in Paris, konzentrisch um den Triumphbogen angeordnet. Nur Fahrradboten und andere klassische Kampfradler wagen sich unmotorisiert auf die riesige Pflasterfläche im Westen der Metropole. Zwölf Verkehrsadern münden in den sternförmigen Platz, alle paar Sekunden pumpt jede von ihnen einen Schwall Autos und Motorräder in den von keinerlei Bodenmarkierungen unterteilten Verkehrskreisel.
Doch unmittelbar am Rand des infernalischen Sterns beginnt schon das Paradies. Selbst aus Fahrradsattel-Perspektive ist der Titel „elysische Gefilde“ für die angeblich schönste Avenue der Welt nicht mehr ganz abwegig: Links und rechts der chronisch verstopften acht (!) Fahrspuren der Champs Elysées verbinden nagelneue, von der Fahrbahn baulich getrennte Radwege den Westen mit dem Zentrum der Stadt. So bekommt man beim entspannten Hinunterrollen vom Triumphbogen in Richtung Louvre, vorbei an der hupenden Kolonne von täglich 64.000 Autos, tatsächlich Lust, bei Joe Dassin mitzusingen. Nicht den abgedroschenen Aux-Champs-Elysées-Schlager, sondern eine unbekanntere Nummer: „A Paris, à vélo, on dépasse les autos“. In Paris überholt man auf dem Fahrrad die Autos. Was 1972 noch eine lustig gemeinte Klage über die vielen Staus war, entspricht heute dem dezidierten Willen der Stadtregierung.
Traum und Wirklichkeit: Le REVe
Wer in Paris im Jahr 2019 zügig vorankommen will, schwingt sich tatsächlich am besten aufs Rad. Früher noch ein kühner Traum (französisch: „rêve“), ist ein Netz von schnellen Radverbindungen gerade dabei, Realität zu werden. „REVe“ lautet das Akronym für das „Réseau Express vélo“, ein zentrales Element der Pariser Fahrradstrategie. 150 Millionen Euro investiert die seit 2014 amtierende Bürgermeisterin Anne Hidalgo in das Projekt, mit dem sie ihre Stadt bis 2020 zu einer der führenden Fahrradmetropolen der Welt machen und den Anteil der Radfahrer am Verkehrsgeschehen von mageren 4 auf immerhin 15 Prozent steigern will. Im vorletzten Jahr des ehrgeizigen Programms ist man zwar immer noch weit von den selbst gesteckten Zielen entfernt, doch selbst die notorisch unzufriedene Radfahrerlobby Paris en selle zeigt sich positiv gestimmt: Nach einem schwachen Start des Programms werde das Fahrrad spätestens seit 2018 nicht mehr als Spielzeug betrachtet. „Es gibt jetzt ein echtes politisches Engagement, sowohl im Dialog mit den Benützern als auch seitens der Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die höchstpersönlich Radwege einweiht. Das war vor einigen Jahren noch unvorstellbar“, so Simon Labouret, Sprecher von Paris en selle. Einzuweihen gibt es derzeit genug: Stück für Stück wird die neue Pariser West-Ost-Achse fertiggebaut. Die Rue de Rivoli, die am Louvre entlang in Richtung Zentrum führt, hat in ihrem Mittelteil bereits einen Zwei-Richtungs-Radweg, der tatsächlich wie ein umgesetzter Radfahrer-Traum aussieht. Im Modal-Split macht sich das schon bemerkbar: Ein Drittel des Verkehrsaufkommens an der Rue de Rivoli zur Stoßzeit entfalle seit Neuestem auf die Radfahrer, freut sich der stellvertretende Pariser Bürgermeister Christophe Najdovski auf Twitter über die aktuellen Verkehrszahlen. Najdovksi, Grün-Politiker und in Paris für Verkehrsangelegenheiten zuständig, ist auch Präsident der European Cyclists‘ Federation. Nicht nur in den sozialen Medien verbreitet er positive Stimmung fürs Radfahren. „In wenigen Tagen ist hier ihr neuer Radweg – ein bisschen Geduld noch, bis wir fertig sind!“ steht unübersehbar an allen Absperrungen, hinter denen an Radwegen gearbeitet wird – so wird Vorfreude in Szene gesetzt.
Vélib’gate und die Folgen
Dabei schien die Fahrrad-Politik an der Seine gerade noch so gut wie gescheitert: Ein Systemwechsel ließ das zuvor weltweit führende Leihradsystems Vélib‘, das es im Schnitt auf über 100.000 tägliche Fahrten gebracht hatte, in die Krise schlittern. Der neue Anbieter Smovengo stach den Platzhirsch JCDecaux bei der Neuausschreibung aus, scheiterte aber an der Umstellung auf ein System, das auch Elektrofahrräder bereitstellen und die Banlieue einbinden sollte. Ein quälendes Jahr lang war Vélib‘ so gut wie unbenützbar. Die Stadtverwaltung wirkte hilflos, man sprach vom „Vélibgate“. Erst seit 2019 geht es langsam wieder aufwärts: Mit 13.000 Stück sind etwas mehr als die Hälfte der Fahrräder von einst im Umlauf, das System hat wieder 163.000 Abonnenten (einst waren es 300.000), von über 67.000 täglichen Fahrten berichtete die Tageszeitung Le Parisien Ende März. Keine berauschenden Zahlen also, aber die Krise ist überwunden. Aus Touristensicht ist auch das ausgedünnte Pariser Netz besser als die meisten, die man aus anderen europäischen Städten kennt. Billig ist es freilich nicht: 5 Euro kostet das 24-Stunden-Abo, 15 Euro ein Pass für sieben Tage. Das Ausleihen selbst ist gratis, wenn man sein Rad innerhalb einer halben Stunde zurückgibt und auf e-bikes verzichtet – die kosten einen Euro pro dreißig Minuten. Die Investition lohnt sich vor allem bei längeren Strecken oder zähen Anstiegen durchaus. Dank einer übersichtlichen App und einem einfachen Bedien-Bildschirm auf jedem Fahrrad – ein riesiger Vorteil gegenüber dem alten System – findet man auch in Gegenden wie dem Triumphbogen unschwer ein Leihrad ganz in der Nähe. Das Service ist hervorragend, wie ein unfreiwilliger Selbsttest belegt: Offenbar habe ich bei der Rückgabe des letzten Leihrades nicht auf die korrekte Verriegelung geachtet, bin „offiziell“ schon seit zwei Stunden unterwegs und kann kein neues Rad mehr ausborgen – ein kurzer Anruf bei der Hotline genügt, die Irrfahrt wird von der Zentrale beendet und kostenfrei gelöscht. „Achten Sie aber bitte bei der nächsten Rückgabe unbedingt auf das „Stop“-Symbol auf dem Display, schönen Tag noch.“ Und so ist es ein königliches Vergnügen, auf der unter Ludwig XIV. angelegten zentralen Pariser Achse in Richtung Place de la Concorde zu radeln. Dort wurde allerdings einst Ludwig XVI. hingerichtet, und auch als Radfahrer fühlt man sich angesichts des anarchisch wirkenden Kfz-Verkehrs etwas mulmig.
Paradigmenwechsel am Wasser
Im Sommer 2019 soll sich das ändern, dann wird nämlich auch die Place de la Concorde radfahrgerecht gemacht. Bis dahin empfiehlt es sich, kurz abzusteigen und das Vélib im Fußgängerstrom mitzuschieben. Dafür kann man dann den Kontrast zwischen dem anachronistisch autogerechten Platz und der Pariser Vision einer verkehrsberuhigten Zukunft hautnah binnen weniger Augenblicke erleben: Rechts vom Eingang in den Tuileriengarten versperren zwei bunt besprayte Betonblöcke eine Fahrspur – jedenfalls für Autos. Von Radfahrern kann die Sperre, die in einen Tunnel führt, bequem passiert werden. Man sollte sich die ungewöhnliche Route keinesfalls entgehen lassen: Am Ende des etwa 400 Meter langen Tunnels kommen auf einen Schlag die Seine, die Türme der Conciergerie, die Sainte Chapelle und der Pont Neuf ins Bild, ein großartiger Moment. Bis vor kurzem war er Autofahrern vorbehalten: Die Strecke zählte zu den wenigen tatsächlich gebauten Teilen des Autobahnnetzes, mit dem Georges Pompidou seine Hauptstadt überziehen wollte. Das Teilstück, auf dem man direkt an der Seine mitten durchs Zentrum von Paris rasen (oder stauen) durfte, eröffnete er 1967 persönlich am Steuer seines Porsche.
Heute flitzen hier Kinder auf Rollern über den Asphalt und man versteht, warum die unbeirrbare Pariser Bürgermeisterin von manchen Kommentatoren mit Georges Eugène Haussmann verglichen wird, dem großen Erneuerer der Hauptstadt zwischen 1852 und 1870. Was sich derzeit an der Seine abspielt, ist nichts anderes als ein großer Paradigmenwechsel. „Das Paris des 21. Jahrhunderts wird ganz anders aussehen als das Paris des 20. Jahrhunderts“, kommentiert Hidalgos Stellvertreter die Umbauarbeiten, die die Stadt derzeit wie eine riesige Baustelle aussehen lassen. Ähnlich wie Haussmann, der das alte Paris sprichwörtlich durchlüften und von schädlichen Dünsten befreien wollte, geht es auch Anne Hidalgo um die Pariser Luft: Feinstaub und Stickoxide machen das Atmen an zu vielen Tagen im Jahr zum Gesundheitsrisiko, dazu kommen immer mehr Hitzetage. „Respirer“, also schlicht: „Atmen“ heißt das Buch, mit dem die Bürgermeisterin im Oktober 2018 den Vorwahlkampf einleitete und die Grundlagen ihrer von vielen Autofahrern als schikanös empfundenen Politik erklärt. „Ich kann handeln. Ich handle. Und die erste der großen Herausforderungen für die Stadt Paris, diejenige, die sich auf alle anderen auswirkt, ist der Klimawandel“, stellt sie darin klar. Wie die Wahlen im Frühjahr 2020 auch immer ausgehen werden: Der von Hidalgo ausgelöste Paradigmenwechsel ist längst im vollen Gang. Das zeigt auch ein im April präsentierter Vorschlag der Kaufleute der Champs-Elysées, die ihre Straße noch vor den olympischen Spielen 2024 radikal umgestaltet sehen wollen: Auch dort soll es auf Kosten von vier der acht Fahrspuren mehr Platz zum Flanieren und Radfahren geben. Mit eingeplant ist auch der Platz rund um den Triumphbogen: Die Verkehrshölle wird zum Gemeinschaftsgarten, im Winter drehen Eisläufer friedlich ihre Runden.
· Alle Informationen zum Pariser Leihradnetz Vélib‘ (Tarife und Abos, App-Download usw.) unter www.velib-metropole.fr
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Tourenvorschläge
für Paris per Rad:
Parisinfo.com: Die Seite des Pariser Tourismusbüros schlägt unter dem Punkt
„Sehenswürdigkeiten“ vier lohnende Radtouren durch die französische Hauptstadt
vor, die man problemlos in Eigenregie absolvieren kann: https://de.parisinfo.com/was-ansehen-in-paris/info/fuhrer/paris-en-velo-itineraires.
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Geführte
Radtouren, Radverleihe:
http://www.bikeabouttours.com:
Fahrradverleih und geführte Touren, zentral im Marais gelegen. Unter https://parisbiketour.net (incl.
Fahrradverleih), www.francetourisme.fr oder auf www.getyourguide.fr kann man mehrstündige
geführte Radtouren mit unterschiedlichen Themen buchen.