Tempel mit Wildwechsel
Japans erste Hauptstadt ist ein wahrlich "geweihter "Ort
Naras prominentesten Bewohnern mangelt es hier und da ein wenig an Zurückhaltung: Sie zerren an den Jacken, stoßen die Passanten mit dem Kopf und manchmal jagen sie sogar den einen oder anderen Touristen vor sich her. Wer sie trotzdem treffen will, steigt am Bahnhof einfach in einen der bunten Touristenbusse, die die Besucher zum Nara-Park bringen. Schon auf dem Weg dorthin zeigt sich die Stadt von der besten Seite: Wilde Kirschbäume säumen die Straßen, dazwischen blitzen über tausend Jahre alten Tempel, Ruinen, uralte Schreine, Gartenanlagen und schiefe Holzhäuser durchs Geäst. Insgesamt acht UNESCO Welterbestätten zählt das sympathische, grüne Städtchen rund 45 Kilometer von Kyoto entfernt. Doch was die meisten Menschen wirklich hierher zieht, sind die Shika-Hirsche. Mehr als tausend von ihnen leben in Nara, mitten in der Stadt, wild - und willkommen, denn sie gelten im Shintoismus als heilige Götterboten und tragen mittlerweile sogar den Status eines Nationalheiligtums.
Göttlich - und gierig!
Auf den gepflasterten Wegen zum Todaiji-Tempel am Rande des Nara-Parks lungern die Shika am liebsten herum, denn himmlische Herkunft hin oder her, die Hirsche von Nara interessieren sich vor allem für Irdisches: Shika-Sembei zum Beispiel, Hirsch-Kekse, wie man sie überall in der Stadt für rund einen Euro kaufen kann. Allerdings tut man gut daran, sie nicht offen in der Hand zu tragen, auch wenn Shika eigentlich friedlich sind - solange kein Futter im Spiel ist. Schon nach wenigen Metern hinter der Bushaltestelle zupfen die ersten wagemutigen Exemplare an der Jacke - fast wie eine Erinnerung, jetzt bitte sofort einige Hirschkekse zu besorgen. Die kleinen Sembei-Stände sind nicht zu übersehen: ein wackeliger Holzverschlag, dahinter eine wehrhafte Verkäufern mit einem Reisigbesen zur Abwehr der Shika, davor die erwartungsvollen Tiere. Einige ahnungslose Chinesen lassen sich eine Handvoll geben und drehen sich suchend um. Großer Fehler! Die Szenerie einige Meter weiter zeigt, was nun sicher folgen wird: Kreischend rennen einige Touristen in Richtung Tempel, in der Linken die Kekse, in der Rechten die Tasche oder das Handy und eine Handvoll Hirsche mit prächtigem Geweih an den Fersen. Andere Shika haben sich auf gewieftere Methoden verlegt: Sie wissen, dass man sich höflich verbeugen muss, um an die Kekse zu kommen und haben diese Übung in geradezu aristokratischer Eleganz perfektioniert, wie es sich für eine Kaiserstadt gehört.
Durchs Nasenloch ins Nirwana
Vor lauter Hirsch-Chaos geraten die unbelebten Sehenswürdigkeiten der Stadt fast ein wenig in den Hintergrund: Der gewaltige Todaiji-Tempel aus dem achten Jahrhundert zum Beispiel. Er ist nicht nur das größte Holzgebäude der Welt, sondern beherbergt auch den "Daibutsu", die größte bronzene Buddha-Statue der Welt. Im Inneren des Tempels bietet sich dem westlichen Besucher übrigens noch eine wunderbare Möglichkeit, sich nach einer kleinen Hirsch-Jagd (natürlich nicht auf, sondern durch die Hirsche) vollends zum Affen zu machen: Zu Füßen des Riesenbuddhas steht eine Säule mit einem kleinen Durchlass in der Größe seines Nasenlochs. Wer es schafft, sich hier durchzufädeln, darf der Legende nach im nächsten Leben auf die Erleuchtung hoffen. Westliche Besucher tun sich in Japan mit dem Nirwana jedoch genauso schwer wie mit dem Hosenkauf: In der Regel liegen auch dünne Ausländer zwei Konfektionsgrößen über der Norm und müssen sich regelrecht durchschieben lassen. Ob das im Jenseits gilt?
Heute hui, morgen pfui
Mit oder ohne Nirwana-Bonus ist der Todaiji der eindrucksvollste Zeuge einer für Japan überaus prägenden Epoche, der ersten Blüte des einheimischen Buddhismus. Als der Tempel erschaffen wurde, war Nara Hauptstadt des jungen japanischen Reiches und Sitz des Kaiserhauses. Allerdings nicht lange: 710 nach dem Vorbild des chinesischen Chang'an (heute Xi'an) erbaut, wurde es zu Zentrum des Buddhismus, der zusehends auch nach der politischen Macht griff. Als der Priester Dokyo mit der Kaiserin Koken (auch unter der Regierungsdevise Shotoken bekannt) ein Techtelmechtel begann, um den Thron an sich zu reißen, wurde es dem Hof zu bunt: Nach dem Tode der Kaiserin 784 verlegte man die Hauptstadt hastig nach Kyoto, um dem Griff der Mönche und vor allem Dokyo zu entgehen - und schloss jede weitere weiblich Thronfolge kategorisch aus. Für Nara ein herber Schlag, denn quasi über Nacht wurde aus der Hauptstadt ein Provinzkaff. In den folgenden Jahrhunderten geriet die Stadt ein wenig in Vergessenheit. Wohl auch deshalb blieben so viele alte Gebäude originalgetreu erhalten. Ende des 19. Jahrhunderts wurden schließlich viele von ihnen sorgfältig restauriert. Der Fußmarsch zurück vom Nara-Park Richtung Zentrum führt daher zur eine geradezu verunsichernd perfekte Idylle: Über lauschige Treppen und kleine Gassen geht es am Kofukuji-Tempel vorbei, auch er natürlich Teil des UNESCO Welterbes, zu kleinen Teichen, einer Füller weiterer Tempel und Shinto-Schreinen und immer wieder Grünanlagen, auch sie allesamt aus der Hauptstadt-Zeit vor rund 1250 Jahren.
Der "Dear Rescue" hilft
Nur die Hirsche sorgen hier und da wieder für mentalen Bodenkontakt. Auf der großen Wiese vor dem Nara National Museum zeigt sich schließlich, was passiert, wenn ein übermutiger Hirsch auf einen langsamen Menschen trifft: Am Geweih eines Shika-Anführers baumeln eine halbe Jacke und die Reste eines Rucksacks. Der städtische "Hirschrettungsdienst" ist jedoch schon unterwegs: Zwei Betäubungspfeile später liegt der Sieger auf der Ladefläche eines kleinen grünen Lasters und wird zur Hirschstation gefahren, wo ihn die Pfleger von den Trophäen befreien. Die Bewohner von Nara nehmen solche Zwischenfälle gelassen. Sie sind es gewohnt, im Einkaufszentrum, auf der Fußgängerzone oder sogar im Aufzug verirrten Hirschen zu begegnen. Im Dunkeln freilich hört man auch den einen oder anderen Japaner fluchen: Göttlicher Hirsch-Kot, man muss es einfach mal direkt sagen, ist nicht nur schwer zu sehen, sondern auch glitschig und immer gut für einen Arm- oder Beinbruch.
Reisetipps
Anreise
Japan Airlines JAL, All Nippon Airlines ANA und Lufthansa fliegen nonstop zum Kansai- International Airport Osaka, rund 70 Kilometer von Nara entfernt. Von Osaka aus ist es nur noch eine halbstündige Zugfahrt nach Nara.
Hotel
Das Vier-Sterne-Haus Nikko Hotel Nara www.nikkonara.jp am JR Bahnhof liegt nicht nur einen Spaziergang von den meisten Sehenswürdigkeiten entfernt, sondern besticht mit großen Zimmern - in Japan in dieser Preisklasse eher selten.
Veranstalter
Fast alle Japan-Veranstalter haben Nara im Rahmen einer Rundreise im Programm. Wer selbständig anreisen und nur den Baustein Nara vor Ort buchen möchte, wird beispielsweise bei Diamir Erlebnisreisen www.diamir.de und East Asia Tours www.eastasiatours.de fündig.
Informationen
Japanisches Fremdenverkehrsamt in Frankfurt, www.jnto.de, Tel. 069/20353 und Stadt Nara http://narashikanko.or.jp/en/