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Review

"Kinder des Satans"

Die Wurzeln des Judenhasses liegen im Christentum. Tilman Tarach schildert materialreich die Geschichte des Antisemitismus

von Felix Schilk

Der Vorwurf des Antisemitismus ruft in Deutschland immer wieder Abwehrreflexe hervor. Nach der Shoa, der nationalsozialistischen Judenvernichtung, will niemand Antisemit sein. Dass der eliminatorische Antisemitismus der Nationalsozialisten nur die radikalste Form einer jahrtausendealten und tief in der christlichen Kultur verankerten Projektion ist, wird häufig verdrängt. Diese „Entlastung“ kritisiert Tilman Tarach in einem materialreichen und anschaulichen Buch über die „verleugneten Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus“.

In der Antisemitismusforschung ist es gängig, zwischen dem christlichen Antijudaismus und dem modernen Antisemitismus zu unterscheiden. Letzterer entstand im Kontext der bürgerlichen Revolutionen und der Ablösung feudaler durch abstrakte und vermittelte Herrschaftsverhältnisse. Nach der Französischen Revolution verbreiteten gegenrevolutionäre Kräfte die Vorstellung der Juden als sinistre Verschwörer gegen die ständische Ordnung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden sie für alle Übel der Moderne wie Verstädterung, Wirtschaftskrisen und Kriege verantwortlich gemacht.

Wie Tarach darlegt, ist das Bild des jüdischen Weltverschwörers aber bereits im Kreuzigungsmythos angelegt. Den christlichen Antisemitismus führt er auf eine Konkurrenzsituation im Römischen Reich zurück. Um das Christentum gegen den Widerstand der römischen Autoritäten durchzusetzen, wurde die Legende verbreitet, dass nicht Pontius Pilatus, sondern die Juden für die Kreuzigung Jesu verantwortlich seien. In den Augen der Christen wurden sie dadurch zu Gottesmördern, da Jesus nach der Trinitätslehre zur Wesenseinheit Gottes gehört. Im Mittelalter hieß es dann, Juden würden die Kreuzigung Jesu durch „Ritualmorde“ an christlichen Kindern symbolisch wiederholen.

In den Schriften des Neuen Testaments findet sich die Idee der Juden als Verschwörer vor allem im Johannesevangelium. Dort werden die christliche Vorstellung einer zwischen Licht und Finsternis geteilten Welt und das Bild der Juden als Agenten der Finsternis und „Kinder des Teufels“ entfaltet. Diese Verbindung von Juden und Satan zieht sich wie ein Roter Faden durch die Geschichte des Antisemitismus. Bis heute werden in christlichen Osterfeuern Strohpuppen verbrannt, die symbolisch für Judas steht.

In den 1930er Jahren wurden an vielen Ortschaften Schilder aufgestellt, die direkt auf das Johannesevangelium Bezug nahmen und auf denen es hieß: „Der Vater der Juden ist der Teufel“. Vor allem Julius Streicher, der Herausgeber des antisemitischen Kampfblatts „Der Stürmer“, bezog sich in seinen Texten häufig direkt auf das Neue Testament. Auch die Selbstbezeichnung des „Tausendjährigen Reiches“ ist dem Johannesevangelium entlehnt.

Die nationalsozialistische Politik konnte ebenfalls vielfach an ältere antijüdische Gesetze anknüpfen. So ging der 1935 in den „Nürnberger Gesetzen“ ausgearbeitete Rasseantisemitismus zum Großteil auf die „limpezia de sangre“ zurück. Dieses spanische Blutreinheitsgesetz wurde im Mittelalter erlassen, um Konversionen von Juden zum Christentum zu verhindern. Auch der 1941 im gesamten Gebiet des Deutschen Reiches eingeführte „Judenstern“ hat eine Entsprechung im sogenannten „gelben Fleck“, den Juden in weiten Teilen des christlichen Europas tragen mussten.

Besonders aufschlussreich ist Tarachs Buch dort, wo er aus Reden und Aufzeichnungen prominenter Nationalsozialisten zitiert. Hitler, der sein Leben lang Mitglied der katholischen Kirche war, sah sich selbst als Prophet. In „Mein Kampf“ schrieb er: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“

Dass ein tief in der christlichen Kultur verankertes Bild des Juden nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht einfach verschwand, dürfte kaum überraschen. Tarach ruft etwa das Pogrom von Kielce in Erinnerung. In der polnischen Stadt wurden im Juli 1946 über 40 Juden ermordet, die erst kurz zuvor aus den Konzentrationslagern befreit worden waren. Auslöser waren Gerüchte über die Entführung eines christlichen Jungen.

Auch der Gottesmordvorwurf ist im 20. Jahrhundert noch weit verbreitet und wurde etwa lange Zeit bei den katholischen Passionsfestspielen wiederholt. Der Oberammergau Report schrieb noch 1971 in revisionistischen Tönen: „Genauso, wie wir nicht wegleugnen, daß Hitler Millionen von Juden vernichtet hat, genauso wenig können die Juden wegleugnen, daß sie Christus ans Kreuz genagelt haben.“ Die evangelische Kirche in Deutschland hat sich erst 1980 offiziell von der Gottesmordlegende distanziert.

Heute zeigen sich christliche Legenden auch im israelfeindlichen Antizionismus. Eine „Einheit von Kreuz und Halbmond“ kämpfte in den 1920er und 1930er Jahren gemeinsam gegen das zionistische Projekt und erfand die Legende von Jesus als ersten palästinensischen Märtyrer. Warum der Vatikan Jassir Arafat zu seinen häufigsten Gästen zählte und Israel erst 1993 diplomatisch anerkannte, liegt nach der Lektüre von Tarachs Buch auf der Hand.

                                                                                       
Tilman Tarach: Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus. Edition Telok. 224 Seiten, 14,80 Euro               

erschienen in: Sächsische Zeitung, 12. Mai 2023, S. 7.