Für Ihre aktuelle Ausstellung Know Thyself in Berlin haben Sie ikonische Werke der Kunstgeschichte mit Lego-Steinen in Pixel-Optik nachgebaut. Warum haben Sie sich entschieden, kein chinesisches Meisterwerk dabei abzubilden?
Die Arbeiten gehen auf das Jahr 2014 zurück, als ich mich in China in einer Art softem Hausarrest befand. In dieser Zeit wandte ich mich Lego zu, um 176 Porträts von politischen Gefangenen zu erstellen. Dieses Medium ermöglichte es mir nicht nur, diese Personen auf lebendige Weise zu porträtieren, sondern erleichterte auch den Produktionsprozess und die anschließende Ausstellung. Die Auswahl jedes Kunstwerks ist also das Ergebnis sorgfältiger Überlegungen, die sich auf meine persönlichen Erfahrungen in China, aber auch auf Chinas Platz im globalen Kontext erstreckten. Einige meiner Lego-Kunstwerke sind von chinesischen Meisterwerken inspiriert, aber ich habe keine geeigneten Plattformen für ihre Ausstellung gefunden. Da das westliche Publikum mit chinesischer Kunst oft nicht vertraut ist, besteht ein großer Bedarf an umfassenden Erklärungen und Kontextualisierungen.
Der Hype um chinesische Kunst, der in den frühen Zehnerjahren einen Höhepunkt erlebte, scheint sich im Westen deutlich abgekühlt zu haben. Sehen Sie in der Kunstwelt eine ähnliche Art von „Entkopplung“ oder Aufspaltung in Paralleluniversen, wie es in der Tech-Welt zu spüren ist?
Im Zeitalter der Postglobalisierung hat sich China in den letzten drei Jahrzehnten von einer schwer vorstellbaren Gesellschaft mit hoher Machtkonzentration zu einem der faszinierendsten Partner der westlichen Welt entwickelt. Heute nimmt der politische Appetit des Westens auf solche billigen Festessen aus China jedoch allmählich ab. Folglich wird auch die oberflächliche Faszination für chinesische Kunst in den Annalen der Geschichte verschwinden. Da wir jedoch weiterhin die Evolution und die Transformation Chinas miterleben werden, wird unser Verständnis für die Geschichte und den gegenwärtigen Zustand Chinas nicht abnehmen, sondern sich vielmehr erweitern.
Ihr Vater, der Dichter Ai Qing, und andere wichtige chinesische Künstler lebten und studierten in Paris und orientierten sich an lokalen Strömungen wie dem Impressionismus oder dem sozialistischen Realismus. Haben die Chinesen bei der Modernisierung ihrer Kunst zu sehr auf den Westen geschaut?
Die Geschichte in ihrer ganzen Größe fließt wie ein unaufhörlicher Fluss, der sich ständig vorwärts und abwärts bewegt. Chinas Kämpfe in der modernen Geschichte führten dabei zu der Erkenntnis, dass viele traditionelle Philosophien, wie der Neokonfuzianismus, die sich entwickelnde Gesellschaft nicht angemessen erklären konnten. Folglich machte sich China auf den Weg, um sich westliche Methoden zu eigen zu machen, sowohl in Bezug auf die Technik als auch auf die Kultur. Im Grunde genommen kann man dies mit dem Ausleihen eines westlichen Feuers vergleichen, um den eigenen Reis zu kochen. Der Schwerpunkt lag jedoch immer auf dem Reis und nicht auf dem Feuer selbst.
Viele Künstler aus aller Welt strömen noch immer nach Berlin, wie einst nach Paris, um sich selbst zu verwirklichen. Was denken Sie: Wird Berlin als Keimzelle und Knotenpunkt für die zeitgenössische Kunst überschätzt?
Ich denke, diese Annahmen sind etwas übertrieben. Berlin hat nie wirklich als Drehscheibe für zeitgenössische Kunst gedient. Ich habe die Stadt nie überschätzt, und ich würde natürlich auch andere Regionen nicht unterschätzen. Kunstwerke werden von Individuen geschaffen, und der Erfolg oder Misserfolg eines Individuums hängt nicht von seiner geografischen Lage ab.
Sie haben Deutschland 2019 verlassen. Warum haben Sie sich dennoch entschieden, Ihr Atelier in Berlin zu behalten?
Berlin ist eine Stadt, in der ich nach meiner Abreise aus China fünf bis sechs Jahre lang gewohnt habe. Ich habe dort ein sehr gutes Studio und ein engagiertes Team von Mitarbeitern. Ich habe nie daran gedacht, diesen Ort aufzugeben. Jedes Mal, wenn ich zurückkomme, kann ich immer noch einige charakteristische Züge Berlins wahrnehmen. Die Stadt hat ein Gefühl von Weite und Neuheit. Es fehlt ihr jedoch ein bisschen an inhaltlicher Tiefe.
Sie haben kürzlich in einem Interview mit einer deutschen Zeitung erklärt, dass sich auch die Staaten des Westens autoritär verhalten. In welcher Hinsicht sind westliche Staaten wie Deutschland vielleicht sogar autoritärer als China?
Der westliche Autoritarismus und der chinesische Autoritarismus unterscheiden sich grundlegend. Der chinesische Autoritarismus basiert seit Jahrtausenden auf einem zentralisierten und hochgradig vereinheitlichten System, das von konfuzianischen hierarchischen Prinzipien durchdrungen ist. Der Westen hingegen strebt nach ständiger Erneuerung, oft angetrieben von wissenschaftlichen und fortschrittlichen Bestrebungen.
Inwiefern ist der Westen autoritär?
Im Westen agiert der Autoritarismus oft unter dem Deckmantel der Demokratie und verlässt sich auf die Stimmen und Entscheidungen der Mehrheit, um soziale Fragen anzugehen. Auch wenn ich mich nicht eingehend mit der deutschen Politik beschäftige, scheint sie einem ähnlichen Muster zu folgen wie in den USA. Verschiedene politische Parteien wetteifern um Einfluss, setzen Strategien ein, um den Wählern zu gefallen, und verhalten sich opportunistisch, oft auf Kosten von Fairness und Gerechtigkeit, die für den gesellschaftlichen Fortschritt jedoch unerlässlich sind. Darüber hinaus sind Unternehmen hier sehr einflussreich, da Demokratie und Freiheit im Westen eng mit ihren Interessen verbunden sind.
Welchen Einfluss hat das auf das Leben des Einzelnen?
Was das Verständnis des Wesens der Menschheit angeht, so mag das chinesische System durchdringender erscheinen, obwohl es in erheblichem Maße als den humanitären Werten zuwiderlaufend empfunden werden kann. Im Westen ist das Verständnis von Menschlichkeit jedoch allmählich der Industrialisierung, Korporatisierung und Kapitalisierung gewichen. In Wirklichkeit haben die Menschen im Westen trotz des Anscheins größerer individueller Freiheit und Unabhängigkeit einige Fundamente ihres Menschseins verloren. Es kam zu zersplitterten Familien, zerbrochenen Bildungssystemen und einem Gefühl gesellschaftlicher Isolation.
Manche Menschen behaupten, der chinesischen Gesellschaft fehle es heute an spirituellen Werten.
Der Mangel an spirituellen Werten ist kein Einzelfall in der heutigen chinesischen Gesellschaft, sondern ein globales Phänomen. Mit dem rasanten Fortschritt der Wissenschaft scheint die Bedeutung des spirituellen Lebens zu schwinden. Diese spirituellen Sehnsüchte sind jedoch ein fester Bestandteil der menschlichen Natur, es sei denn, wir wollen alle zu Robotern werden.
Wie nehmen Sie eigentlich die sogenannte Cancel Culture wahr – muss ein Künstler heute sensibler und umsichtiger vermitteln, was er ausdrücken will und für wen er spricht?
Wenn wir aufgrund politischer Korrektheit unsere tatsächlichen Lebensumstände verkennen, kann die Cancel Culture sehr schädlich sein. Sie erweist sich oft als heuchlerisch und geht an praktischen Problemen vorbei. Die Vorstellung, dass man zum Beispiel nicht über chinesische Themen diskutieren kann, wenn man sich außerhalb von China aufhält, ist eine vereinfachte und fehlgeleitete Sichtweise. Nach dieser Logik sollte ich auch nicht über Russland sprechen, da ich mich nicht dort aufhalte, und doch führe ich solche Gespräche. In der sich schnell entwickelnden sozialen Landschaft der Gegenwart, die sich durch einen umfassenden Informationsaustausch auszeichnet, ist es nicht mehr so wichtig, wo wir uns aufhalten und wo nicht. Soziale Probleme sind, unabhängig davon, wo sie auf der Welt auftreten, vergleichbar.