Chinas Staatschef will sich gleichzeitig als starker Mann und als Intellektueller verkaufen, sagt der Journalist Shi Ming. Er glaubt: „Bisher ist ihm das nicht gut gelungen."
Dieser Artikel liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem China.Table Professional Briefing vor - zuerst veröffentlicht hatte ihn China.Table am 3. Juli 2023.
Zusammen mit dem Sinologen Daniel Leese hat der Journalist Shi Ming den Essayband „Chinesisches Denken der Gegenwart" veröffentlicht, in dem Schlüsseltexte chinesischer Intellektueller erstmals ins Deutsche übersetzt werden. Fabian Peltsch sprach mit Shi Ming über die Kämpfe der heutigen Geisteselite Chinas und das Wertevakuum in der Gesellschaft.
In dem von Ihnen kommentierten und übersetzten Essayband „Chinesisches Denken der Gegenwart" schreiben Sie: Hohen Beamten in China war es in imperialen Zeiten möglich, den Kaiser zu kritisieren oder ihm zumindest den Spiegel vorzuhalten. Wie ist das bei der chinesischen Führung heute? Schart Xi Jinping ausschließlich Ja-Sager um sich?Es gibt sicherlich noch immer sehr moralisch denkende Intellektuelle, die im Namen des Volkes Unrecht anklagen und zeigen, dass sie keine Angst vor grausamen Herrschern haben. Ein großer Teil zählt heute aber zu den zu Funktionären gewordenen Intellektuellen, die eigene Interessen in ihre Theorien durchaus mit einfließen lassen. Das ist ein großer Unterschied zu den alten Gelehrten, die dem Kaiser zu Diensten standen. Aber unter den Kaisern gab es natürlich auch schamlose Ja-Sager. Natürlich durfte niemand den Kaiser in letzter Konsequenz belehren. Aber auch der Kaiser musste aufpassen, dass er das Himmelsmandat in den Augen seiner Minister nicht verliert. Und das hielt die Macht des Kaisers in Grenzen - nicht immer, aber ab dem zwölften Jahrhundert immer systematischer.
Das Zeitalter der Ideologie und der sozialen Revolution hat das von Grund auf geändert. Die Revolutionäre und Parteichefs wollten selbst alle politische Theologen sein. Selbst wenn sie von Theorie keine blasse Ahnung hatten, wollte sich fast jeder mit eigenen Theorien in der Verfassung verewigen lassen, ob das nun Mao war oder Deng oder Xi.
Xi Jinping stellt sich in der Öffentlichkeit als belesener Denker dar, der schon in Jugendjahren die Klassiker der Weltliteratur verschlungen hat. Wird das in China ernst genommen?
Mit seinem Versuch, sich in der Öffentlichkeit als Intellektueller zu verkaufen, macht sich Xi nicht nur bei der geistigen Elite lächerlich. Öffentlich sagen kann man das natürlich nicht. Aber man merkt es an den vielen politisch gefärbten Witzen, die über ihn in Umlauf sind. Von einem politischen Führer verlangt man heutzutage eine Art reflektierten Wagemut. Also jemanden, der nachdenkt, aber nicht lange zögert und entschlossen handelt. Und das bringt Xi Jinping nicht zustande. Er sagt etwas und ein halbes Jahr später wird es zurückgenommen, sei es die Urbanisierung, die in kurzer Zeit zur Enturbanisierung wurde, oder die 180-Grad-Drehung in der Corona-Politik.
Bei Mao wusste man oft nicht, was seine Zitate eigentlich bedeuteten, aber er handelte rigoros. Wenn er sagte „Ihr geht alle aufs Land", dann wanderten 30 Millionen Menschen aufs Land. Ob man das nun gut oder schlecht findet: Man hatte Respekt vor solchen Charakteren. Putin ist in den Augen vieler Russen ebenso ein starker, skrupelloser Führer. Xi möchte selbst so eine Figur abgeben. Bisher ist ihm das nicht gut gelungen.
Wenn ein Mann alle Macht in der Hand hat, dann sorgt er dafür, dass keine hundert Blumen blühen und schon gar keine 100 Schulen wetteifern. Die heutige Frage, und das ist auch die Frage, die unser Band beantworten will, ist, ob der Herrscher das überhaupt noch kann: alles verstummen lassen, was ihm nicht passt. Wir merken das eigentlich immer mehr, gerade im Social-Media-Bereich, dass es zwar viele vorgeschriebene Tabus gibt, die aber auch immer mehr gebrochen werden. Ein Paradebeispiel ist die Ukraine-Krise. Am Anfang sagte man nie etwas gegen Russland. Heute schreiben viele im Internet, Russland sei klar der Aggressor und dass wir Chinesen sie unterstützen, hat nur mit unseren eigenen Interessen, aber nichts mit Moral zu tun. Teilweise kommen die Zensoren da nicht mehr hinterher. Manchmal löschen sie das auch gar nicht mehr.
Das klingt nicht wie der totalitäre Überwachungsstaat, als der China im Westen oft dargestellt wird.
Verstehen Sie mich nicht falsch. China ist nicht frei. So viele wandern ins Gefängnis und jeden Tag kommen mehr dazu. Aber ich bezweifle mit einigen Gründen, dass die Partei es noch mal schaffen kann, eine wasserdichte Zensur hinzukriegen. Auch diese Machtkonzentration eines einzigen Mannes dauerhaft zu halten, wird nicht gelingen. Und das ist natürlich ein Hoffnungsschimmer für China.
Wie bewerten Sie einen Intellektuellen wie Wang Huning, der ja seit Jiang Zemin als ideologischer Vordenker der Parteiführung gilt?
Wang Huning ist ein Phänomen, das die Zeit nach Mao kennzeichnet. Streng genommen ist er kein Ideologe, weil er in seiner ideologischen oder ideologisch wirkenden Argumentation keine Kontinuität bewahren kann. Wang Huning ist ein Uminterpretierer. Er kombiniert westliche Theorien, zum Beispiel von Huntington oder Carl Schmitt, mit chinesischer Interpretation. Als Jiang Zemin an die Macht kam, brauchte er eine Art Volkspartei-Modell. Daraus wurde die Theorie der „Drei Repräsentationen". Hu Jintao brauchte eine Verfassungspolitik, die der Partei folgte. Beides wurde von Wang Huning zurechtgebastelt.
Für Xi Jinping, der nun alle Macht in der Hand hat, interpretierte Wang wieder eine neue Theorie. Auch durch Wang haben Chinas Intellektuelle begriffen, worauf es heute ankommt: Sie interpretieren jetzt alle drei Monate etwas Altes neu. Aber umso mehr Uminterpretationen in Umlauf gebracht werden, umso unglaubwürdiger wird die Partei.
In Ihrem Buch wird erwähnt, dass auch westliche Denker wie Foucault uminterpretiert werden, um Dinge wie den Überwachungsstaat zu rechtfertigen. Philosophie ist in China sozusagen eine Dienstleistung geworden.
Ja, genau, eine ideologische Dienstleistung. Vielleicht bin ich zu respektlos gegenüber solchen „Philosophen", aber ich denke, sie können gar keine echten Philosophen sein, weil sie sich zu sehr an dem Tagesbedarf der Politik orientieren. Philosophen müssen doch ein bisschen weltfremd sein, sonst kann man gar nicht philosophieren. Insofern ist Xi Jinpings Zeitalter für sie auch eine sehr tragische Zeit. Die Macht lässt nicht zu, dass die Intellektuellen wirklich etwas Neues formulieren. Heutzutage, wo die Studenten wieder aufgerufen werden, ihre Professoren anzuzeigen, ist die Angst wieder der größte Lehrmeister für die Intellektuellen. China hat eine riesige Machtfülle, vor allem materiell war der Aufstieg des Landes beeindruckend. Aber China hat keine spirituelle Kraft mehr.
Sie sprechen in ihrem Buch in diesem Zusammenhang von einem Wertevakuum.
Ich würde sogar weitergehen: China hat ein Vakuum an spiritueller Tiefe. Werte kann man ja noch fabrizieren. Aber um die Werte glaubwürdig zu vermitteln, braucht man spirituelle Festigkeit und Tiefe. Alle Glaubensschulen haben heute in China Zulauf. Das heißt doch, dass der Konsum allein nicht reicht. Aber wenn man heutige quasi religiöse Bewegungen in China betrachtet, ist eigentlich fast alles Scharlatanerie. Auch Zen-Buddhismus wird nur herangezogen, damit man sich individuell besser fühlt. Wellness. Ich glaube, China wird demnächst zu einem Land, indem immer heftiger debattiert werden wird, weil nämlich niemand mehr eine Erklärung für irgendetwas hat. Deshalb empfehlen Daniel Leese und ich in unserem Band auch, den chinesischen Debatten noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken als zuvor.
Entweder die Not wird so groß, dass man nicht nur die Streitkultur nicht verbieten kann, sondern dass man begreift, dass man diese Streitkultur braucht. Dann vielleicht würde sich die Tür etwas öffnen. Oder aber die Diktatur und die Kontrolle wird noch viel, viel schärfer, sodass es dann irgendwann nicht mehr zu Debatten kommt, sondern zur blutigen Revolution.