Seit fünf Monaten wird in Hongkong demonstriert. Anfangs ging es um ein umstrittenes Auslieferungsgesetz, mittlerweile sind die Proteste zu einem Grundsatz-Konflikt geworden . Fünf Kernforderungen stellen die größtenteils jungen Demonstranten an ihre Lokalregierung, darunter die Freilassung verhafteter AktivistInnen, eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt und ein allgemeines Wahlrecht. Eine Abspaltung Hongkongs gehört entgegen chinesischer Medienberichte nach wie vor nicht zu den Zielen der Mehrheit.
Anfang des Monats hat die Regierung ein Maskenverbot erlassen, um noch härter gegen die Demonstranten durchgreifen zu können. Bei all dem hat sie jedoch ein Gemeinschaftsgefühl unterschätzt, das vor allem auch durch Musik am Leben gehalten wird, wie uns der Sinologe und Musikjournalist Fabian Peltsch erklärt, guten Tag!
Herr Peltsch, in Hongkong wird die Gewalt und Gegengewalt immer heftiger, die Demonstranten gehen trotz Noterlässen weiter auf die Straße. Sie sagen, Musik spielt dabei eine wichtige Rolle. Inwiefern?
Musik ist für die Proteste in Hongkong so wichtig, weil sie ein Gemeinschaftsgefühl transportiert, das die Stadt so nie zuvor gekannt hat. Hongkong war jahrelang ein Ort allergrößter Klassenunterschiede. Die Eliten, auch die aus Festlandchina, haben sich hier immer mehr abgeschottet, das Einkommen der Mittelschicht hält schon lange nicht mehr mit den Mietpreisen und den mageren Job-Aussichten mit. Auch die Subkultur hatte dank der horrenden Mieten in den letzten Jahren immer weniger Spielraum. In dieser Stadt herrscht nun also plötzlich zum ersten Mal so etwas wie Solidarität. Die Menschen organisieren Nachbarschaftshilfe, versorgen sich mit Essen, sie waschen sich gegenseitig das Tränengas aus den Augen. Und ganz wichtig: Sie singen gemeinsam, mal organisiert und mal spontan, auf der Straße, in Shopping Malls und in U-Bahn-Schächten. So liefern sich den Soundtrack zur Revolte quasi in Echtzeit selbst.
Welche Musikstücke werden da gesungen?
Immer wieder hört man zum Beispiel “Do You Hear the People Sing’” aus dem Musical Les Miserables, zu deutsch „Das Lied des Volkes“, das vom Juniaufstand 1832 in Paris handelt und schon bei anderen Protesten, etwa in der Türkei 2013 zum Einsatz kam. Das wichtigste Stück ist derzeit aber sicher „Glory to Hong Kong“, eine klassisch anmutende Hymne in vier Sätzen. Komponiert wurde sie erst vor knapp drei Monaten von einem anyonymen Musiker, der gerüchteweise aus der Hongkonger Indierock-Szene stammt und gerade mal Anfang 20 ist. Der Text wurde dann von Demonstranten gemeinsam in einem Internet-Forum finalisiert. Darin heißt es zum Beispiel „Söhne und Töchter, lasst uns zusammen marschieren, für das was richtig ist – dies ist die Revolution unserer Zeit!“ Große Worte, also.
(Einspieler)
Dass das Stück gerade in der Orchester-Version so marsch-tauglich klingt, ist kein Zufall. Der Komponist sagt er wolle etwas schreiben, dass das Hongkonger vereinen und ihr Feuer am Brennen halten soll. Innerhalb von zwei Monaten hat sich „Glory To Hongkong“ dann tatsächlich zur wichtigsten Protesthymne entwickelt. Im September haben es um die 1000 Demonstranten gemeinsam auf sechs Etagen einer Shopping Mall gesungen (Videoaufnahmen finden sich u.a. bei Youtube). Ein Teilnehmer sagte, es fühlte sich an als würde man der Geburt einer Nation beiwohnen. Dem jungen Komponisten ist da also offenbar wirklich das erste identitätsstiftende Revolutionslied des neuen Jahrtausends gelungen.
Es gibt auch einige Pop-Songs, die den Soundtrack liefern, oder?
Ja, vor allem ältere Stücke, die bereits bei der sogenannten „Regenschirm-Revolution“ 2014 gesungen wurden, etwa „Boundless Ocean, Vast Skies”, der Popband Beyond, das in HK jeder kennt. Die Ballade handelt von Freiheit und Selbstverwirklichung, ist aber an sich schon ein selbstgewisses Statement, denn 1993, als das Stück erschien, hatte Festland-China noch nicht viel an Popkultur zu bieten, während Canto-Pop, also auf kantonesisch gesungener Pop aus Hongkong bereits in ganz Asien gehört wurde. Auch hier geht es um die eigene Identität in Abgrenzung zu Festland-China.
Neben den Klassikern gibt aber auch neue Stücke, gerade aus der Rap-Szene. Die Hiphop-Veteranen LMF und der junge Trap-Rapper JB haben sich in neuen Songs intensiv mit der Polizeigewalt beschäftigt. „Kugeln gegen Regenschirme“ heißt es da zum Beispiel bei LMF. Und JB rappt Zeilen wie „Ich bin lieber ein Aufständischer, wie ihr mich nennt, als ein Soldat ohne Seele“. Die Lieder verbreiten sich schnell über Internet-Foren, Social-Media-Kanäle wie Facebook, Twitter und YouTube. Im Gegensatz zum Festland ist das Internet in Hongkong ja noch immer frei und unzensiert. Dass das so bleibt ist ja auch etwas, wofür die Demonstranten kämpfen.
Wie stehen Musiker in Festland-China dazu? Gibt es auch pro-chinesische Stimmen?
Viele Pop-Musiker vom Festland haben sich in den vergangenen Wochen öffentlich auf die Seite der Hongkonger Polizei gestellt oder „Hongkong gehört zu China“-Posts geteilt. Gerade am 1. Oktober, dem am 70. Jahrestag der Volksrepublik, ist man in China geradezu aufgefallen, wenn man keinen Pro-Peking-Spruch geteilt hat. Sogar Faye Wong, die man bei uns noch als Hauptdarstellerin aus Wong Kar Weis „Chungking Express“ kennt, eine Hongkonger Ikone also, hat für einen patriotischen Jubiläums-Film ein Partei-Lied neu eingesungen. Demgegenüber steht in Hongkong die Popsängerin Denise Ho, die ihre großen Erfolge in den Nullerjahren feierte, und jetzt als eines der wichtigsten Gesichter der Bewegung die DemonstrantInnen bei Anhörungen vor der UN und im US-Kongress vertreten hat.
Regierungschefin Carrie Lam kündigte vergangene Woche an, notfalls mit Militärgewalt auf die Proteste in Hongkong zu reagieren. Wie geht es ihrer Meinung nach weiter?
Ich denke je größer der Druck von oben wird, umso weniger auf die Forderungen eingegangen wird, mehr fühlen sich die Hongkonger Demonstranten als Schicksalsgemeinschaft. Das spiegelt sich auch in der Musik wieder. Bei den letzten Protesten 2014 wurden eher positive Lieder gesungen, da herrschte oft Volksfeststimmung. Jetzt klingt die Musik ernster, feierlich, kämpferisch und manchmal wie auch im Fall von „Glory To Hongkong“ fast nach einem Trauermarsch. Man merkt, dass viele Hongkonger das Gefühl haben, dass dies ihre letzte Chance ist, sich aus dem Griff Pekings zu befreien.
Original