Herr Peltsch, wie kam es zu dieser unwahrscheinlichen Renaissance japanischer Popmusik?
Das war am Anfang vor allem ein Internetphänomen. Songs wie “Plastic Love” von Mariya Takeuchi wurden dort plötzlich zu Viral-Hits. Immer mehr Musikfans bekamen auf YouTube obskure japanische Alben in ihrer Empfehlungsliste angeboten. Und die hatten oft so eine hohe Qualität, dass viele herauszufinden versuchten, wer diese Musiker sind. Mit dem Ergebnis, das jetzt erstmals historische japanische Alben als Reissues exklusiv für den europäischen und amerikanischen Markt erscheinen.
Besonders der sogenannte “City Pop” hat auf YouTube einen Siegeszug angetreten. Was hat es damit auf sich?
City Pop war sozusagen der Soundtrack des japanischen Wirtschaftswunders in den 80er-Jahren, also der großen Zeit von japanischen Firmen wie Sony oder Nintendo. In Japan herrschte damals eine unglaubliche Aufbruchsstimmung und eine große Lust am Konsum. City Pop passt in seiner naiven, schwungvollen Art da gut hinein. Die Musik klinge wie “Christmas on a Summer’s Day” hat jemand auf YouTube geschrieben. Ich finde das trifft es ziemlich gut.
Wie wird das Phänomen in Japan selbst bewertet?
Da sind viele dieser Musiker noch immer Stars, beziehungsweise Namen, die jeder kennt. Aber gerade Songs wie “Plastic Love” waren dort nie Hits. Andere Alben sind in Japan ebenfalls so gut wie vergessen. Das Erstaunen über dieses unwahrscheinliche Comeback ist dort also auch groß. Das merkt man zum Beispiel daran, dass Japanische Zeitungen plötzlich darüber berichten oder Musiker wie der heute 71-jährige Haruomi Hosono erklären, dass sie zuerst glaubten, man würde sie veräppeln. Akiko Yano, eine Avantgarde-Pop-Sängerin, mit der ich für meinen Artikel auch gesprochen habe, meint, dass viele Menschen, besonders junge, bei uns in dieser Musik offenbar etwas sehen, das ihnen gefehlt hat. Ich glaube, sie hat Recht.
Was könnte das sein? Was macht den City Pop so faszinierend für westliche Hörer?
Ich denke, dass in der Musik eine Unschuld mitschwingt, die viele junge Leute in unserer heutigen Zeit vermissen. Wenn man sie hört fühlt man sich ein bisschen wie in ein goldenes Zeitalter versetzt, das man aber nie selbst erlebt hat, das sich irgendwie in einem anderen, besseren Universum abgespielt hat. All diese Songs und Künstler sind bei uns nicht vorbelastet. Sie bewegen sich außerhalb unseres kulturellen Gedächtnisses. Dementsprechend kann man diese Musik mit neuer Bedeutung aufladen. Junge Menschen bekommen ihre eigenen 80er. In den besten Momenten ist das als würde man die größten Popstars des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal hören. Nur heißen sie hier eben nicht Prince und Kate Bush, sondern Tasuro Yamashita und Takes Ohnuki.
Welcher Künstler sticht aus der Vintage-Welle heraus?
Zum einen Tatsuro Yamashita, der ganze viele Songs der City-Pop-Ära geschrieben und produziert hat. Seine Stimme ist unverkennbar, und viele seiner Songs unfassbar eingängig. Die bestehen fast nur aus Refrains und setzen immer noch einen euphorischen Moment oben drauf.
Was ist ihr persönlicher Lieblingskünstler?
Das wäre Haruomi Hosono, der hat mit City Pop nur entfernt zu tun, wird aber gerade auch bei uns wiederentdeckt. Man kann sagen, dass Hosono eine der wichtigsten Figuren der japanischen Popgeschichte ist, die es definitiv mit den großen im Westen aufnehmen kann. Bei vielen großen Pioniertaten in Japans Pop-Welt hatte er seine Finger im Spiel. Er hat in den frühen 70ern Happy End gegründet, die erste richtig gute Folk-Rock-Band Japans, die in coolem japanisch gesungen hat. Ende der 70er-Jahre hat er dann das Yellow Magic Orchestra erschaffen, das auf Rap und Techno einen ähnlich großen Einfluss hatte wie Kraftwerk. Das wird bei uns gerne unterschlagen.
Inwiefern?
Wie Kraftwerk wurde das Yellow Magic Orchestra, kurz YMO genannt, von frühen HipHop-DJs wie Afrika Bambaata gesampelt. Das galt als der heißeste Scheiß, das war noch tanzbarer als Kraftwerk, richtig funky. Außerdem waren Yellow Magic Orchestra bis heute die einzige Band, die bei Soul Train spielen durften, der Show, die für schwarze Musik eine große Bedeutung hatte.
Hosono hat in seiner Musik viel mit “Stereotypen gespielt, die der Westen von Asiaten hatte”, schreiben Sie in ihrem Artikel.
Ja. Mit seiner Band YMO ging er zum Beispiel in den Kleidern der roten Garden auf die Bühne. Dazu muss man wissen: Hosono war ein großer Fan von amerikanischer Musik, er hörte als junger Mann viel die Radiosender der amerikanischen Besatzungsmacht, das hatten viele Japaner übrigens mit deutschen Künstlern gemein, diese popkulturelle Inspiration durch die Siegermacht. Hosono war insbesondere ein Experte für sogenannte Exotika, also jenes Genre, das sich in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg großer Beliebtheit erfreute, und vor allem aus diesen diffusen Sehnsüchten nach Inselparadiesen speist, die viele US-Soldaten aus dem Pazifikkrieg mit nach Hause brachten. Aber diesen Krieg hatten sie ja mit den Japanern ausgefochten. Hosono hat solche Exotika-Songs von Anfang an gecovert, sie aber in einen neuen Kontext gestellt, Zum einen, in dem er sie verzerrte, rumpeligen Rock N Roll oder futuristischen Techno-Pop daraus machte. Zum anderen, in dem er ihnen einfach als Japaner eine andere Perspektive gab. Auf seinem ersten Soloalbum covert er zum Beispiel das Lied “Fujiyama Mama“, das 14 Jahre nach dem Krieg sexistische Ausbeutung und Atombombenabwürfe in einem Schlager verharmloste. Da gibt es Zeilen wie “I’ve been to Nagasaki, Hiroshima too! The things I did to them baby, I can do to you!”. Das ist aus dem Mund eines Japaners, noch dazu einem der ersten Nachkriegsgeneration, natürlich starker Tobak.
Hört man den Einfluss der Japaner heute auch in westlicher Musik?
Ja, besonders in letzter Zeit. Vampire Weekend haben ein Hosono-Stück aus den 80ern auf ihrem neuen Album gesampelt. Mac DeMarco spielte kürzlich bei Hosonos allererstem US-Solo-Konzert ein Duett mit dem Meister, den er als seinen größten Einfluss bezeichnet. Auch Devendra Banhart verehrt diesen Sound aus Japan, wie man an seiner neuen Single hören kann. Und City Pop hat im Internet gleich ganze neue Genres beeinflusst, nämlich Future Funk und Vaporwave. Da wird diese ganze unschuldige, fortschrittsgläubige Ästhetik der 80er wieder aufgegriffen, aber auch ironisch gebrochen. City Pop wird dort zum Beispiel einfach gesampelt, aber viel langsamer abgespielt. So bekommt das ganze einen Zombie-Effekt. Einen Konsum-Zombie-Effekt.
Dass dieses Phänomen über YouTubes Algorithmen bekannt wurde, müsste Sie als Musikjournalist ja eigentlich verunsichern...
Nein, im Gegenteil. Ich finde es toll, dass sich im Internet, wo es eben viel weniger kulturelle Grenzen und kulturelle Engstirnigkeit gibt, so etwas über künstliche Intelligenz Bahn brechen kann. Persönlich hoffe ich, dass Ähnliches noch öfter passiert. CityPop aus Indonesien ist zum Beispiel auch fantastisch. Hätte ich ohne YouTube nicht rausgefunden. Insgesamt habe ich die Hoffnung, dass auf diese Weise endlich alte Begriffe von Weltmusik über den Haufen geworfen werden. Also dass man nicht mehr das Fremde, Exotischen in der Weltmusik sucht, sondern die Gemeinsamkeiten. Dieser japanische Sound ähnelt unserem ja doch sehr, wurde aber eben auch einen Tick anders interpretiert. Ein Paralleluniversum des Pop, wenn man so will. In dem man die Chance hat, die größten Songs des 20. Jahrhunderts noch einmal mit unschuldigen Ohren zu hören. Ist doch super.
Original