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Wir sollten dringend gnädiger miteinander umgehen

In der Beratung erzählen mir immer mehr Klienten von misslungenen Treffen, als müssten sie sich gegenseitig überbieten in Pleiten, Pech und Pannen. Männer klagen über Arroganz, über Zickigkeit, die Atmosphäre einer Steuerprüfung - Frauen über Unverbindlichkeit, Unehrlichkeit und eine Menge nicht erfüllte Erwartungen.


Wir sollten dringend gnädiger miteinander umgehen, verständnisvoller, empathischer. Uns in die Rolle des Gegenübers versetzen und uns fragen: Würden wir es mögen, so behandelt zu werden? Würden wir uns wohl fühlen in dieser Situation und mit dieser Person?"

Wenn du sein drittes Date in diesem Monat bist

Denn sonst finden wir uns immer wieder in solch unschönen Situationen: Er hat sie in sein Stammcafé eingeladen. Die Kellnerin, der Mann hinterm Tresen, die Dreiergruppe am Nebentisch, sie alle wissen genau, was gerade passiert, denn es ist sein drittes Date in diesem Monat. Sie ahnt, dass sie nicht die erste Frau ist, die an diesem Platz sitzt, sie fühlt sich beobachtet, gemustert und bewertet. Wirklich Freude verspürt sie keine, aber wenn sie schon mal da ist, dann spult sie ihr Programm jetzt ab. "Wo siehst du dich in fünf Jahren?", "Willst du Kinder?" und "Du fährst aber kein Motorrad, oder?"

Jede Frage ist eine Erwartung, jede Antwort eine Verpflichtung. Wohlgemerkt, wir sind beim ersten Date und nicht in der Paarberatung nach fünf Jahren Beziehung.

Wo ist die Neugierde geblieben, sich mit einem neuen Menschen an der Seite auf ganz Neues einzulassen?

War nicht das die Idee einer neuen Beziehung? Sicherheit durch Bindung, klar! Aber doch nicht Abhaken der vermeintlichen Tugenden, die der Traummann besitzen muss - weil sie sich das so vorgestellt hat, als sie sich das erste Mal ihre Traumhochzeit ausmalte.

Gebt den Männern eine Chance! Es trifft den Mann deshalb umso härter, wenn ihm die Frau keine Chance gibt, sich zu beweisen, weil sie ihn von Vornherein auf der einen Seite mit ihren Ex-Partnern vergleicht (alle untreu, doof, eingebildet ...) und auf der anderen Seite mit ihrem Traumprinz (groß, dunkelhaarig, stark, durchsetzungsfähig ...).

Das evolutionäre Prinzip sagt: Die Frau wählt, der Mann lässt sich wählen. Und der verliebte Mann führt ja durchaus sehr gerne seinen Balztanz auf und zeigt, was er zu bieten hat. Ihm ist in die Wiege gelegt worden, sich gegen Mitbewerber durchzusetzen und zu versuchen, in irgendwas das Beste zu sein, um die Auserwählte zu überzeugen.

Der Mann mit Ecken und Kanten hat da viel zu oft keine Chance. Am Ende des Dates soll er nun auch Initiative zeigen und wenigstens per Textnachricht binnen weniger Stunden beweisen, wie toll er sie fand. Macht er das nicht, ist er zu unverbindlich. Macht er es, ist er langweilig, weil auch in jeder Frau eine Jägerin steckt und das leicht zu erlegende Wild immer den Makel trägt, irgendwie fußlahm zu sein.

Liebe Singles, liebe Frauen und liebe Männer, geht gnädiger miteinander um. Die Konfrontation mit einem Berg von Erwartungen, den es nun zu erklimmen gilt, ist nicht romantisch sondern anstrengend.

Arbeitet miteinander und nicht gegeneinander. Gebt eurem Gegenüber das Gefühl, dass ihr euch wohl fühlt in seiner Gegenwart und dass euch das umgekehrt ebenso wichtig ist. Das macht sympathisch.

Und niemand will einen anstrengenden Partner. Sondern jemand, der einen ein Leben lang überraschen kann, der einen mitreißen kann, wenn man selbst träge ist, der einen runterbringt, wenn man die ganze Welt unerträglich findet und der einem Nähe und Geborgenheit gibt, wenn man die Umarmung am dringendsten benötigt - und am wenigsten verdient. 

Zugegeben, das ist auch eine hohe Erwartung. Aber die darf sein, die soll sein.

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