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Elektroauto mit chinesischem Komfort: Nio ES6 im Test

Der Nio ES 6 macht sich gut in den bayrischen Bergen

Lange Strecken im elektrischen ES6 von Nio sind für den Fahrer etwas langweilig. Der Level-2-Assistent hält Spur, Tempo und Abstand. Die Suche nach dem gewünschten Radiosender gestaltet sich schwierig, da das Menü bislang nur auf chinesisch verfügbar ist. Auch die digitale Assistentin Nomi, die in einem beweglichen Kugelsegment auf dem Armaturenbrett residiert, versteht nur Mandarin. Die Beifahrerin schläft auf einem Sitz mit Fußstütze, ähnlich denen in der Business-Class eines Verkehrsflugzeugs.

Mir bleiben der Blick auf die bayerischen Berge, die Angaben im Head-up-Display sowie im Bildschirm hinter dem Lenkrad. Hier zeigt der Autopilot meinen lindgrünen SUV als kleines Symbol. Um mein Auto wabert ein blauer Kreis, fast wie ein Heiligenschein. Er symbolisiert den aktiven Autopiloten. Neben und vor dem Bildschirm-Nio tauchen Pkw, Lkw und Motorräder in Grau auf dem Display auf. Die Erkennung anderer Verkehrsteilnehmer erfolgt ausgesprochen präzise. Dennoch erinnert der Fahrassistent in regelmäßigen Abständen, die Hände am Lenkrad zu lassen. Seine regelmäßige akustische Warnung und die Massagefunktion in meinem Sitz halten mich wach. Willkommen in der chinesischen Oberklasse.

Mein erster Ladestopp am Wasserkraftwerk Walchensee läuft nicht wie erwartet. Wallbox und Auto einigen sich nur auf 3,2 kW mit dem Typ-2-Kabel. Möglich sind 7 kW. Mit der einphasigen Leistung würde eine vollständige Ladung der 70 kWh fassenden Batterie rechnerisch zehn Stunden dauern. Zu lange für Reisen, dafür gibt es auf der rechten Fahrzeugseite einen chinesischen Schnellladeanschluss (GB/T) mit bis zu 100 kW Leistung. Die Nio-Ingenieure haben einen CCS-Adapter gebaut. Damit schaffe ich später an Ionity-Säulen Ladeleistungen bis 85 kW in die aktiv temperierte Batterie. Mit einer Ladung soll der Nio 430 km (NEFZ) weit kommen. Im Test erweisen sich 360 km bei einem Verbrauch von 19,6 kWh auf 100 km als realistischer.

Die Zeit des Ladestopps nutze ich, um mir anzuschauen, wie aus Sonnenenergie über den Umweg "Wasser" und einen Höhenunterschied Strom wird - garantiert CO 2-frei. Mit gutem Gewissen schlängele ich später mit dem SUV die Serpentinen zum Walchensee hinauf. Aus diesem 200 Meter höher gelegenen See wird seit 1924 das Kraftwerk gespeist, das seit bald 100 Jahren mit 124 MW immer noch eines der größten Wasserkraftwerke in Deutschland ist.

In den Kurven unterstützen die in dieser Ausstattung serienmäßige Luftfederung, die mit 265/45 R21 niederquerschnittigen Reifen in Verbindung mit einer zielsicheren Lenkung das Gefühl vermitteln, in einem leichteren Auto zu sitzen. Das hohe SUV wiegt leer mindestens 2345 kg, wankt aber dank einer straff ausgelegten adaptiven Dämpfung kaum spürbar in den engen Kurven. Die Motoren vorn (160 kW) und hinten (240 kW) liefern zusammen 725 Nm Drehmoment. Damit macht der Aufstieg Spaß - und er bleibt weitgehend ungetrübt von Antriebseinflüssen, wie sie bei so großen Kräften und nur einer angetriebenen Achse unvermeidbar wären. Auf gerader Strecke beschleunigt der Nio ES 6 in 4,7 Sekunden von Null auf 100 km/h. Bei Tempo 200 ist Schluss. Auf der bei Motorradfahrern beliebten Bergstrecke sind aus guten Gründen maximal 60 km/h erlaubt.

Für Sekundenbruchteile geht mein Blick immer wieder durch das Panoramadach in den sommerlich blauen Himmel. Der Markenname Nio bedeutet "der blaue Himmel kommt", eine Anspielung auf die Smog-Situation in chinesischen Metropolen. Elektroautos könnten daran etwas ändern.

Unternehmer William Li gründet 2014 die Marke in Shanghai. Im Sommer 2018 kommt der ES8, ein siebensitziges SUV, auf den Markt. Ein Jahr später folgt der fünfsitzige ES6, der 17 cm kürzer ist (4,85 m). In Breite (2,17 m) und Höhe (1,73 m) sind die beiden E-SUV fast identisch. Im September 2020 komplettiert der Nio EC6 das SUV-Trio, mit einer noch stärker vom Coupé inspirierten Dachlinie.

Inzwischen liefen rund 50.000 Fahrzeuge in Hefei in der Provinz Anhui vom Band. Nio steckt die Investorengelder nicht in eine eigene Fabrik, sondern lässt bei der Automarke JAC fertigen. Auch bei seinem jüngsten Coup setzt Li auf Partner. Zusammen mit Batteriehersteller CATL und zwei weiteren Unternehmen gründet er die Battery Asset Company (BAC). Damit werden Elektroauto und Batterie voneinander getrennt. Kunden in China kaufen das Elektroauto bei Nio und mieten die Batterie bei BAC. Damit wird das Auto günstiger und ein Weiterverkauf einfacher.

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