Detroit war mal »Motor City«, dann war es bankrott. Jetzt geht wieder was. Unterwegs in Amerikas größter Nicht-Mehr-Geisterstadt.
»Ich mag den Vergleich mit Popcorn«, sagt Jeannette Pierce, und meint damit die jüngeren Entwicklungen in ihrer Stadt. »Auf einmal poppt etwas Neues auf«, sagt sie und schnipst mit den Fingern. Sie schnipst noch einmal, und wieder, in immer kürzeren Abständen. So wie gerade in Detroit immer mehr Neues aufpoppt.
Jeannette Pierce ist in Detroit geboren und aufgewachsen und leitet die Detroit Experience Factory – eine Non-Profit-Organisation, die Stadtführungen anbietet und als Touristeninformation dient, weil die Stadt Detroit keine betreibt. Pierce und andere lokale Stadtführer haben schon rund 95.000 Menschen durch die Straßen der einst zweitgrößten Stadt der USA und ihre bewegte Geschichte geführt. »Sogar Einheimische sind manchmal falsch informiert«, sagt Pierce.
Worin sich alle Detroiter, mit denen ich gesprochen habe, einig sind: Nach jahrzehntelangem Abstieg ist die Talsohle durchschritten, mit der Stadt geht es wieder aufwärts. Nicht wenige hoffen, dass ihre Stadt eine ähnliche Auferstehung aus Ruinen hinlegen könnte, wie es Berlin seit der Wiedervereinigung getan hat – um voneinander zu profitieren, hat sich die Detroit Berlin Connection gegründet. In der Stadt poppen – um beim Popcorn-Bild zu bleiben – immer mehr Start-ups auf, aber auch gemeinnützige Initiativen, die ihre Nachbarschaft aufwerten wollen. Auch wenn Detroit zwischenzeitlich der Sprit ausgegangen war, läuft der Motor mittlerweile wieder. Ich war in der einstigen Autostadt unterwegs, um herauszufinden, in welche Richtung die Fahrt geht.
Aufstieg und Fall der »Motor City«
Egal ob man auf einem der vielen Highways ins Stadtzentrum fährt oder von Kanada aus über den Detroit River hinüberschaut: Das »Renaissance Center«, ein riesiger Gebäudekomplex aus 6 Türmen, ist mit seinen stattlichen 220 Metern Höhe nicht zu übersehen. Heute beherbergt es die Konzernzentrale von General Motors; in den 1970er-Jahren hatte der Autokonzern Ford ursprünglich vor, der Stadt mit diesem kombinierten Geschäfts- und Einkaufszentrum zu neuer Blüte zu verhelfen.
Doch statt einer Renaissance verlangsamte es nur den Niedergang der »Motor City«, die nach den goldenen Jahren bei Ford, General Motors und Chrysler seit den 1960er-Jahren Rost ansetzte. Diverse Öl- und weitere Wirtschaftskrisen, zuletzt die Finanzkrise im Jahr 2008, trieben die Arbeitslosigkeit in schwindelerregende Höhen. Die Bevölkerung Detroits schrumpfte von 1,8 Millionen im Jahr 1950 auf nur noch 677.000 im Jahr 2015. Zwischenzeitlich stand fast jedes vierte Haus leer. Die Stadtfinanzen gingen derart in den Keller, dass Detroit im Jahr 2013 ein Insolvenzverfahren durchlief. Jeannette Pierce von der Detroit Experience Factory sagt: »Der Bankrott war für uns nicht überraschend – es ging eher darum, die Finanzen neu zu ordnen.«
Heute deutet vieles darauf hin, dass die Stadt wieder zu Kräften kommt: In der Woodward Avenue im Herzen des zentralen Bezirks Downtown werden gerade die letzten leerstehenden Hochhäuser hergerichtet; die brandneue Straßenbahn ist seit Mai in Betrieb, eine Station weiter Richtung Norden entsteht gerade das große neue Football-Stadion. Die geschäftigen Renovierungsarbeiten in Downtown gehen zu großen Teilen auf Daniel Gilbert zurück, einen ortsansässigen Milliardär, der seit dem Jahr 2011 ca. 100 leerstehende Anwesen gekauft hat und renovieren lässt.
Ein anderer Investor ist Manuel Moroun, der die Ambassador’s Bridge, den am meisten frequentierten Grenzübergang nach Kanada, betreibt und durch eine neue Brücke ersetzen will – und nebenbei noch den verfallenen Hauptbahnhof neu nutzen will. Und dann gibt es noch die Familie des kürzlich verstorbenen Mike Ilitch, der das altehrwürdige Fox Theater renovieren ließ und dem die großen Detroiter Baseball- und Eishockeyteams (inklusive Stadien) gehörten. Insbesondere Ilitch wurde vorgeworfen, Entwicklungen verschleppt und damit Spekulationen befeuert zu haben. Downtown ist die Gentrifizierung in vollem Gange – manche haben die Befürchtung, dass der ganz große Aufschwung die meisten Stadtviertel links liegen lässt.
Mehr Leben in die Viertel!
Eines der Viertel, die ohne großen Investor klarkommen müssen, ist Osborn am nordöstlichen Stadtrand. In den Jahren 2000–2010 schrumpfte die Bevölkerung um gut 27% auf nunmehr 27.000 Bewohner. Die sichtbarste Folge: Fast 3.000 Häuser stehen leer. Die Fahrt von Downtown nach Osborn führt bis zuletzt über 6-spurige Highways, die für die wenigen Autos vollkommen überdimensioniert sind. Hier von einer Geisterstadt zu sprechen, wäre übertrieben – aber 2 Blocks raus aus Downtown zeigt sich, wie lokal begrenzt der Bau-Aufschwung ist.
In Osborn wäre jedenfalls eine Menge Platz für schicke Neubauten. Hier stehen vorwiegend Einfamilienhäuser, meist zweigeschossig, viele von ihnen mit Brettern verrammelt. Wo diese Bretter bunt bemalt sind, war wahrscheinlich die Osborn Neighborhood Alliance am Werk. »Es war wirklich ein großes Thema, unsere Nachbarschaft wieder sicher zu machen«, sagt Kayana Sessoms. In unverschlossenen Häusern könnten sonst Gangs lauern – ein anderes Projekt der Osborn Neighborhood Alliance organisiert tägliche Patrouillen durch die Nachbarschaft.
Immer wieder gehen leerstehende Häuser in Flammen auf: Brandstiftungen gehören zum Alltag, genau wie die großen Werbeschilder in ganz Detroit, die die Telefonnummer zeigen, unter der man Hinweise geben kann. Auch in 13700 Mapleridge Street hatte irgendwer ein Feuer gelegt, bevor die Osborn Neighborhood Alliancedas Backsteinhaus mit den spitzen Giebeln gekauft und mit dem Renovieren begonnen hatte. Im Haus ist Contonio Hill gerade dabei, Styroporplatten als Isolierung an den Wänden anzubringen – der Handwerker beschäftigt 6 Mitarbeiter: »Die Zeiten ändern sich gerade, es gibt viele Jobs im Renovierungsbereich.« Hill schätzt, dass das Haus bereits in wenigen Wochen bewohnbar sein wird. Die Komplettsanierung eines Hauses kostet rund 60.000 US-Dollar.
Aktuell sucht die Osborn Neighborhood Alliance nach einer Familie, die in das Haus einziehen will. 13700 Mapleridge Street ist das erste von 20 Häusern, das binnen 5 Jahren von einer Ruine in ein Zuhause umgebaut werden soll, damit der Detroiter Vorort Osborn wieder lebendig wird. Insgesamt weiß Programmleiterin Kayana Sessoms von ungefähr 5 Organisationen, die in ihren Vierteln ähnliche Projekte gestartet haben. »Ein paar Jahre nach der Immobilienkrise von 2008 realisierten die Leute, was hier abging. In den letzten 5–7 Jahren haben sie wirklich die Initiative ergriffen.«
Direkt neben 13700 Mapleridge Street hat die Osborn Neighborhood Alliancezum Verweilen einen Garten mit Blumen und Parkbänken angelegt. Auf der anderen Straßenseite stehen noch leere Häuser, die darauf warten, dass sich jemand ihrer annimmt.
Mehr Jobs für die, die sie am dringendsten brauchen!
Wohnraum gibt es in Detroit mehr als genug – und dennoch viele, die sich ihn nicht leisten können. Die Anzahl der Wohnungslosen geht in Detroit – anders als in Deutschland – zwar seit 2 Jahren zurück. Dennoch zählte die Stadt im Januar noch über 2.000 obdachlose Menschen, die größtenteils in Notschlafstellen untergebracht waren.
Die 43 Beschäftigten von Veronika Scott – die meisten von ihnen alleinerziehende Eltern, die zuvor wohnungslos waren – tauchen nicht mehr in dieser Statistik auf: Sie hat The Empowerment Plan gegründet, um Menschen aus der Armut zu helfen. Im Obergeschoss eines kleinen Fabrikgebäudes rattern die Nähmaschinen. In Arbeitsteilung entstehen hier robuste Mäntel, die zum Schlafsack umfunktioniert werden können – für die harten Detroiter Winter. Doch die bislang gut 25.000 Stück sind schon in die halbe Welt ausgeliefert worden. Den ersten Entwurf zeichnete Veronika Scott für ein High-School-Projekt. Die Mäntel könnten auch bei Naturkatastrophen oder für Geflüchtete nützlich sein.
»Wir nähen Mäntel, um Menschen zu beschäftigen, nicht umgekehrt«, sagt die Gründerin. Sie erzählt von ihrem Ziel, an verschiedenen Standorten – »Obdachlosigkeit gibt es nicht nur in Detroit« – 600 Menschen zu beschäftigen. Veronika Scott sieht große Potenziale in der Start-up-Szene, allerdings müssten die Menschen gut ausgebildet sein, um für die neuen Jobs infrage zu kommen. In der direkten Nachbarschaft von The Empowerment Plan ist in den vergangenen 5 Jahren viel passiert: Damals waren bloß 2 der etwa 15 Häuser in diesem Abschnitt der Vermont Street in Benutzung und heute steht nur noch eines leer.
Manchmal, wenn Leute nach Detroit kommen und neu eröffnete Geschäfte und Restaurants sehen, sagen sie: ›Oh, es ist jetzt perfekt!‹ – Nein, ist es nicht. Es gibt immer noch Bereiche in der Stadt, um die sich die Polizei nicht kümmert und wo es keinen Nahverkehr gibt, der dich vom Fleck bringt.– Veronika Scott
»Mit der Krise kommen die Möglichkeiten«, sagt auch Jeannette Pierce von der Detroit Experience Factory. »Wir haben einige wirklich innovative Ideen entwickelt.« Das gilt für The Empowerment Plan genauso wie für die Michigan Urban Farming Initiative, die mitten in Detroit Gemüse anbaut und ihre Kunden aus der Nachbarschaft selbst entscheiden lässt, wie viel sie dafür ausgeben können.
Mehr Mobilität in »Motor City«!
Der durchschnittliche Detroiter Arbeitnehmer braucht 25,9 Minuten für den Arbeitsweg. 2 von 3 Menschen legen ihn allein im Auto zurück, jeder sechste bildet Fahrgemeinschaften. Bleiben gerade einmal 6,8% mit öffentlichen Verkehrsmitteln und 0,6% per Fahrrad. Vor 2 Jahren erlangte der »Walking Man« mediale Berühmtheit – ein Detroiter Arbeiter, der jeden Tag mehr als 20 Meilen (32 km) zu Fuß zurücklegt, weil das Busnetz nicht besser ausgebaut ist.
Das sagt vor allem etwas über die Verkehrsplanung von »Motor City« aus: Detroit ist durch und durch eine Autostadt. Dabei errechnete die University of Michigan im Jahr 2014, dass immer mehr US-amerikanische Haushalte keine Autos besitzen – und Detroit liegt mit 26% im Spitzenfeld (im Schnitt haben gut 9% der Haushalte kein Auto). Erschwerend kommt hinzu, dass 50 der Detroiter Vororte sich aus Kostengründen vom ohnehin spärlichen Nahverkehr abgekoppelt haben. Der »Walking Man« ist also ziemlich sicher kein Einzelfall.
Immerhin ist seit Mai die QLine in Betrieb, eine 5 Kilometer lange Straßenbahnverbindung zwischen Downtown und Midtown. Wobei sich eine Fahrt noch sehr stark nach Betatest anfühlt: »Heute kein Ticket benötigt, bitte genieße deine Fahrt«, steht auf der Pappe, die mit Kabelbindern am Ticketautomaten befestigt ist. Es kann auch mal passieren, dass die Bahn 5 Minuten an einer Haltestelle steht – und weder Fahrgäste noch Zugführer so richtig zu wissen scheinen, was gerade los ist. Und überhaupt sehen die kleinen Bähnchen in den überbreiten Straßen noch etwas verloren aus. Dafür hat sich Midtown in Sichtweite der Straßenbahn herausgeputzt.
Wird Detroit jetzt total Hipster?
Ein paar Minuten Fußweg von der Straßenbahn entfernt befindet sich ein großer Shinola-Store. Shinola, das war in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Schuhcreme made in Detroit. Im Jahr 2011 erweckte Tom Kartsotis, der mit der Uhrenmarke Fossil schon einmal großen Erfolg hatte, den Namen zu neuem Leben: Unter dem Label gibt es jetzt hippe Luxusprodukte wie Fahrräder für 1.950 bzw. 2.950 US-Dollar, Uhren für 500–700 US-Dollar, Notizbücher für 16–30 US-Dollar, und ja, auch Schuhcreme für 15 US-Dollar. Alles unter dem Label »made« oder, noch besser, »manufactured in Detroit«.
Der Name der Stadt dient als Projektionsfläche, weil er Assoziationen von tüchtiger Arbeit weckt und von einer großen Heldenreise von ganz oben nach ganz unten und wieder zurück. Auf diesen Zug springt das Marketing von Shinola voll auf – etwa mit einem Tweet, unmittelbar nachdem die Stadt im Jahr 2013 ihre Insolvenz verkündete: »Bankrott, Schmankrott. Wir schaffen viele neue Stellen hier in #Detroit. Komm in unser Team!«Downtown werden 2 alte Hochhäuser übrigens gerade zum großen Shinola-Hotel umgebaut.
Tatsächlich hat sich seit dem Bankrott einiges getan in Detroit. Was man sicher sagen kann: Der Motor läuft wieder. Aber wer in »Motor City« eigentlich am Steuer sitzt – die Downtown-Investoren, die kreativen Detroiter oder die geschäftstüchtigen Nostalgie-Hipster –, das wird erst sichtbar sein, wenn Detroit ein bisschen Strecke gemacht hat.
Dieser Artikel ist im Rahmen einer Recherchereise des Vereins journalists.network entstanden.
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