Der Potsdamer Geoforscher Jochen Zschau über die Zuverlässigkeit von Erdbebenwarnungen, die Gebäudesubstanz in Italien und die Bebengefahr in Deutschland
Von Daniel Schlicht
ZEIT ONLINE: Herr Zschau, kommt dieses Erdbeben für Sie überraschend?
JOCHEN ZSCHAU: Erdbeben in dieser Stärke in der Region sind nichts, was man nicht erwarten könnte. Jedes einzelne Ereignis ist natürlich immer eine Überraschung, aber Erdbeben in dieser Stärke in der Region treten im Schnitt alle zehn Jahre dort auf. Das letzte große Beben geschah 1997, es hatte auch eine Stärke um 6 herum. 1984 gab es auch eines, und wenn man noch weiter zurückgeht, ins Jahr 1915, da ereignete sich nur einige Kilometer entfernt ein Beben, bei dem 29.000 Menschen ums Leben kamen.
ZEIT ONLINE: Worin sehen Sie die Ursache für diese Erdbeben?
JOCHEN ZSCHAU: Letzten Endes ist das alles auf die Bewegung der afrikanischen Platte Richtung Europa zurückzuführen. Afrika quetscht sozusagen den gesamten Mittelmeerraum ein und erzeugt dabei Spannungen, die sich ab und an in Erdbeben entladen. Regional gibt es komplexere Erklärungen für die einzelnen Erdbeben. In diesem Fall ist es so, dass sich in dieser Knautschzone auch noch die adriatische Platte, die Kruste unter der Adria, unter Italien schiebt und sich dahinter die Kruste des tyrrhenischen Meers öffnet. Das führt zu Dehnungserscheinungen. Dieses Beben war so ein Dehnungsbeben.
ZEIT ONLINE: Der italienische Forscher Giampaolo Giuliani vom Nationalen Institut für Physik in Gran Sasso warnte ja bereits vor Wochen anhand von auftretenden Radon-Emissionen vor einem Beben in L'Aquila. Hätte man die Katastrophe also nicht vorhersehen müssen?
JOCHEN ZSCHAU: Aus meiner Sicht nein. Vorläuferphänomene solcher Art wie Radon-Erscheinungen, elektrische Leitfähigkeit und so weiter gibt es seit Jahren. Das Problem ist, dass wir daraus keine Gesetzmäßigkeit ablesen können. Es gibt Anomalien im Vorfeld solcher Beben, manchmal gibt es keine Anomalien, manchmal kommt kein Beben hinterher. Unsere Kenntnisse sind nicht ausreichend, um eine Vorhersage darauf aufzubauen. Man kann also den Behörden keinen Vorwurf machen, da es eigentlich keine klaren Indizien zu einem bevorstehendem Beben gab. Dass jetzt in diesem Fall die Anomalie in Zusammenhang mit einem Beben beobachtet wurde, muss natürlich weiter untersucht werden. Bis dato gibt es aber keine verlässliche Vorsagemethode.
ZEIT ONLINE: Erwarten Sie weitere Nachbeben in der Region?
JOCHEN ZSCHAU: Das muss mit einem klaren Ja beantwortet werden, denn das passiert so gut wie immer bei solch starken Ereignissen. Im Allgemeinen ist es so, dass die ersten Nachbeben eine Stufe kleiner sind als das Hauptbeben, sodass man hier mit Nachbeben der Stärke 5 rechnen muss. Das ist immer noch schlimm genug für die betroffene Region. Beim letzten Mal, 1997, gab es Nachbeben von der gleichen Größenordnung des Hauptbebens. Das sind zwar Ausnahmefälle, aber es hat gerade in dieser Region stattgefunden. Also muss man dort mit starken Nachbeben rechnen, womöglich heute noch oder in den nächsten Tagen.
ZEIT ONLINE: Der italienische Geologe Mario Tozzi misst der veralteten Gebäudesubstanz in Italien eine Hauptschuld für die hohen Opferzahlen bei.
JOCHEN ZSCHAU: Das ist sicherlich der Fall, aber da sollte man jetzt nicht mit dem Finger nur auf Italien zeigen. Es ist fast überall so, dass die Möglichkeiten, erdbebengerecht zu bauen, nicht umgesetzt werden. Dies ist auch leicht gesagt, es können ja nicht einfach alle alten Gebäude abgerissen werden.
ZEIT ONLINE: Sie sagten, dass man die schlechte Bausubstanz als Kriterium nicht nur auf Italien beschränken kann. Inwiefern stellt dies denn eine Gefahr in Deutschland dar?
JOCHEN ZSCHAU: Der erste Punkt ist, dass die Gebäude in Deutschland generell schon besser gebaut sind als in Italien. Zweitens können Beben solcher Stärke in Deutschland zwar passieren, aber es ist sehr viel unwahrscheinlicher als in Italien. Doch ein Beben der Stärke 6 wäre auch in Deutschland ein Schadensbeben.
Prof. Dr. Jochen Zschau ist Experte für Erdbeben am Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam. Die Fragen stellte Daniel Schlicht.