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Frau Sibbe, ihr Mann und die Anfangstage der Windkraft

Foto: Matthias Ibeler

In Eigenregie mit Bauteilen vom Schrottplatz konstruiert Josef Homann Anfang der Achtziger im Münsterland ein Windrad. Seine Frau Gudrun Sibbe erzählt die Geschichte des technikbegeisterten Tüftlers – und von einer denkwürdige Begegnung mit Enercon-Gründer Aloys Wobben.



Die Achtziger sind eine stürmische Zeit. Nena pustet 99 Luftballons auf, Thomas Gottschalk zeigt den Deutschen, woher der Wind in Sachen Mode weht, und Boris Becker fegt wie ein Orkan über den Platz. Selbst im sonst beschaulichen Borghorst, 30 Autominuten von Münster entfernt, geht es in den Achtzigern stürmisch zu. Hier, genauer gesagt auf dem Hof von Josef Homann, liegt in gewisser Hinsicht sogar das Auge des Sturms.

Als Gudrun Sibbe, Homanns spätere Frau, den Hof 1981 erstmals betritt, führt der technikbegeisterte Tüftler sie in die Scheune und zeigt ihr, woran er gerade arbeitet. „Was ist denn das für eine Rakete?“, fragt sie ihn. Keine Rakete, erklärt ihr Homann. Das ist ein Windrad.


Wenn es draußen stürmt, springt drinnen der Tauchsieder für die Heizung an

Ein Jahr später stellt er das Windrad neben seinem Wohnhaus auf. 10,30 Meter misst der Turm aus 6,3 Millimeter dickem Stahlrohr, wie die über die Jahre vergilbte technische Zeichnung verrät. Die drei Rotorblätter sind jeweils 4,90 Meter lang. Homann, damals Anfang 50, hat sie eigenhändig aus dem zu dieser Zeit noch kaum gebräuchlichen Glasfaserverstärkten Kunststoff (GFK) laminiert. Mit Kunststoff kannte er sich aus, erzählt Gudrun Sibbe am Telefon. Ihr Mann leitete mit seinen Brüdern damals eine Fenster- und Rolladenfirma.


Eine Rakete ist das selbstgebaute Windrad dann aber doch – die Anlage ist als sogenannter Schnellläufer ausgelegt. Sie soll in erster Linie Strom für den Tauchsieder der Warmwasserheizung liefern. „Wenn es windig war, hat das Wasser ruckzuck gekocht“, erinnert sich Sibbe.


Das Windrad liefert „sauberen Strom, ohne Schwefeldampf und Radioaktivität“

Homann berichtet den „Steinfurter Nachrichten“ in einem Artikel vom April 1984 über seine unkonventionelle Heizung: „Das bietet sich geradezu an.“ Schließlich stehe der Wind in der kühleren Jahreszeit am reichlichsten zur Verfügung. Dem Reporter einer anderen Zeitung sagt er, er spare durch sein Windrad säckeweise Kohle ein und erzeuge damit „sauberen Strom, ohne Schwefeldampf und Radioaktivität“.

Der Windkraftpionier Manfred Lührs, der damals ebenfalls Windräder baut und noch heute in der Branche tätig ist, kann der Anlage von Homann einiges abgewinnen: „Für die damalige Zeit eine moderne Maschine: Hydraulik, Blattverstellung, Luvläufer mit aktiver Windnachführung und tolle Rotorblätter in GFK-Bauweise“, sagt Lührs beim Blick auf die technische Zeichnung.


Im Urlaub studiert er die Anlagen anderer Pioniere von Dänemark bis Teneriffa

Homann ist damals in der Windszene kein Unbekannter. Er tauscht sich mit anderen Konstrukteuren aus und besucht ihre Anlagen. In jedem Urlaub steuert das Paar ein Windrad an, egal ob in Dänemark, auf Teneriffa oder in Portugal. In Lissabon sitzen sie sogar einmal mit dem Energieminister am Tisch, erinnert sich Gudrun Sibbe. „Das waren schon Abenteuer.“

Aber auch im Münsterland beschäftigt man sich damals mit der Technologie. Auf einer Infoveranstaltung zum Thema „Alternative Energien“ bemängelt einer der Vortragenden, dass die Windenergie trotz Tschernobyl noch immer mit politischen Schwierigkeiten zu kämpfen habe: Subventionen würden nur spärlich fließen, die Baugenehmigungen gebe es unter Hinweis auf das Erscheinungsbild in der Natur nur mit großen Auflagen. Außerdem müsse vermutet werden, dass die Energiewirtschaft eine Einschränkung ihrer Monopolstellung befürchte.


Erfindergeist und Überzeugung sichern den Aufstieg der Windkraft

Doch Windfans wie Josef Homann sind überzeugt, dass sich die Technologie durchsetzen wird. Mit Beharrlichkeit, Optimismus und technischem Verstand legen sie den Grundstein für den Erfolg der Windkraft. Josef Pieper, damals Vizepräsident der Deutschen Energiegesellschaft, erkennt: „Ein erheblicher Teil der Wärme könnte in Zukunft aus Wind und Sonne gewonnen werden.“ Das sieht auch Homann so, erinnert sich seine Frau. Ihr prophezeit er einmal: „Ihr werdet euch noch wundern. Das wird hier schon bald alles mit Windkraftanlagen zugepflastert sein.“

„Die Windenergie lebt von der Überzeugung von einer nachhaltigen Energieversorgung und dem Erfindergeist Einzelner“, sagt der Windkraftspezialist Po Wen Cheng von der Universität Stuttgart. „Dieser Pioniergeist hat für die unzähligen Innovation in den letzten Jahrzehnten gesorgt.“


Homanns Windrad liefert pro Jahr rund 20.000 Kilowattstunden Strom. Dabei benötigt er auf seinem Hof nicht mehr als 7000. Eigentlich könnte er den Überschuss ins Netz einspeisen, doch er scheut die horrenden Anschlusskosten. Überhaupt will er in erster Linie experimentieren und basteln. Er testet verschiedene Konfigurationen seiner Anlage und tauscht die Blätter regelmäßig gegen einen neu entworfenen Satz aus. Zuletzt ist sein Windrad ein Zweiflügler.


Die meisten Bauteile organisiert er für kleines Geld auf dem Schrottplatz. Die Komponenten oder gar ein ganzes Windrad bei einer der frühen Windkraftfirmen zu kaufen, kommt für ihn nicht infrage. „80.000 Mark verlangt ein bekannter deutscher Hersteller für eine Anlage, wie ich sie bei mir stehen habe", sagt er in einem Zeitungsartikel. Seine Anlage kostet ihn dagegen nur rund 15.000 Mark.


Mit Enercon-Gründer Aloys Wobben fachsimpelt Homann über Getriebetypen

Mit Enercon-Gründer Aloys Wobben fachsimpelt Homann über Getriebetypen

Und dann ist da noch eine Anekdote, an die sich Gudrun Sibbe besonders gern erinnert. 1983 fährt sie gemeinsam mit ihrem Mann ins ostfriesische Aurich. Dort besuchen sie einen Windradtüftler, der noch für Furore sorgen soll: Aloys Wobben, Gründer des Windradherstellers Enercon. Homann und er haben schon einige Male telefoniert, nun wollen sie sich persönlich zum Fachsimpeln treffen.


Als sie in Wobbens Garage stehen, soll Homann gefragt haben: Junge, wieso baust du die Anlagen nicht ohne Getriebe? Der Enercon-Chef, erinnert sich Gudrun Sibbe, habe überrascht reagiert. Jahre später bringt sein Unternehmen tatsächlich die weltweit ersten großen getriebelosen Windräder auf den Markt. Daniel Düsentrieb der Windkraftszene nennen sie ihn. Sibbe glaubt: „Die Idee mit der getriebelosen Anlage hat ihm mein Mann in den Kopf gepflanzt."


Manfred Lührs, der in den Neunzigern bei Enercon gearbeitet hat, hält das für eher unwahrscheinlich, schließlich habe es auch zuvor schon direktangetriebene Windgeneratoren gegeben. Ausgeschlossen ist es allerdings nicht.


Homanns Windrad ist heute eine Ruine. Doch seine Prognose ist eingetreten

Homanns Windrad ist heute eine Ruine. Doch seine Prognose ist eingetreten

Das Windrad in Borghorst läuft bis 1995. Dann fliegt in einem Sturm die Haube der Anlage davon. Seither nisten die Vögel im Maschinenhaus. Homann hat kein Lust mehr, auf den Turm zu klettern und den schweren Deckel zu montieren. Er bleibt lieber in der warmen Stube und verbringt seine Zeit mit Büchern. Als er 2017 verstirbt, ist seine frühere Rakete schon eine rostige Ruine. Immerhin zieht sie im Herbst 2020 die Aufmerksamkeit des Fotografen Matthias Ibeler auf sich, der sich auf die Windenergie spezialisiert hat. Er entdeckt die Anlage bei einem Spaziergang und liefert die Anregung zu diesem Text.


Gudrun Sibbe blickt noch immer jeden Tag auf das Windrad und erinnert sich gern an die alten Tage. Den erneuerbaren Energien ist sie treu geblieben. Sie hat 30 Fotovoltaikmodule auf dem Dach installieren lassen; im Keller steht eine waschmaschinengroße Speicherbatterie. Draußen stürmt der Wind in der kühleren Jahreszeit noch immer ums Haus - die Windräder allerdings sind viel größer und zahlreicher geworden. Genau wie es Josef Homann prophezeit hat.






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