Seit Jahren kämpft die Journalistin Rana Husseini darum, die Öffentlichkeit für Gewaltverbrechen an Frauen zu sensibilisieren. Ein Bewusstseinswandel zeichnet sich ab, doch er geht langsam vonstatten.
Frau Husseini, in Jordanien sollen Frauen besser gegen Gewalt geschützt werden. Die Regierung will zu diesem Zweck auch einen Artikel im Strafgesetz streichen, den Frauenrechtlerinnen seit Jahren bekämpfen. Worum geht es dabei?
Gesetz 308 besagt, dass Sexualstraftäter straffrei ausgehen, wenn sie ihr Opfer heiraten. Wenn dieser Artikel entfällt, ist das auf jeden Fall ein Fortschritt für Frauen, denn die Täter müssen bestraft werden. Allerdings nennt die Regierung eine Einschränkung: Für Opfer zwischen 15 und 18 Jahren soll der Artikel weiterhin gelten, sofern das Opfer in eine Ehe einwilligt. Diese Bestimmung könne das Opfer vor der eigenen Familie schützen, argumentiert die Regierung. Das ist eine Ausrede. Der Paragraf sollte ersatzlos gestrichen werden.
Vor der eigenen Familie? Wieso?
Bei uns sind Frauen häufig immer noch verantwortlich für die Ehre und den Ruf einer Familie. Wenn eine Frau etwas moralisch Verwerfliches tut oder Opfer sexueller Gewalt wird, "verdient" sie es nach dieser Auffassung, in Extremfällen zu sterben. Frauen werden auch schnell zu Opfern von Gerüchten, Argwohn, Inzest oder Erbstreitigkeiten. Oder sie verlassen die Familie, weil sie Gewalt erfahren haben. Dann können die Übergriffe eskalieren.
Wie weit verbreitet ist häusliche Gewalt?
Für Jordanien existiert keine verlässliche Statistik. Nach Angaben der Uno macht weltweit eine von drei Frauen im Laufe ihres Lebens Gewalterfahrungen. Soziologen sagen, dass die Gewalt gegen Frauen in unserer Region erst noch ansteigen wird, bevor sie abnimmt. Das liegt an den veränderten Geschlechterrollen. Heute sind etwa in Jordanien viel mehr Frauen im Beruf mit Männern zusammen oder verbringen ihre Freizeit ausserhalb des Hauses. Es wird dauern, bis sich unsere Gesellschaft daran gewöhnt hat.
Sie haben als Erste in Jordanien das Thema Gewalt im Namen der Familienehre aufgegriffen. Wie kamen Sie dazu?
Nach meinem Studium in den USA kam ich 1993 nach Jordanien zurück und fing als Gerichtsreporterin bei der "Jordan Times" an. Bis heute berichte ich für die Zeitung über Gewaltverbrechen. In einem meiner ersten Artikel schrieb ich über den Fall eines 16-jährigen Mädchens, das von seinem Bruder vergewaltigt und daraufhin von einem anderen Bruder ermordet wurde. So etwas passiert in Jordanien nicht alle Tage. Als ich die Verwandten interviewte, gaben sie der Frau die Schuld an der Vergewaltigung. Sie habe ihren Bruder verführt. Für mich war das alles irgendwie irreal.
Wurden Sie bei der Berichterstattung behindert?
Mitte der neunziger Jahre war das alles noch tabu, niemand wollte darüber reden. Aber meine Chefredakteure und die meisten Kollegen standen hinter mir. Mich hat das so erschüttert, dass ich über jeden einzelnen derartigen Fall berichten wollte. Ich wollte das Sprachrohr dieser Frauen ohne Stimme werden.
Was passierte mit den Tätern?
Damals kamen die Täter noch mit geringen Strafen davon. Sie bekamen drei bis sechs Monate, maximal ein Jahr für einen vorsätzlichen Mord. Zusammen mit anderen Frauenrechtlerinnen gründete ich das Nationale Komitee zum Kampf gegen sogenannte Ehrenmorde. Wir haben Demonstrationen organisiert und Unterschriften gesammelt, in Behörden und Schulen vorgesprochen, auch auf dem Land, um auf den Skandal der Gewalt im Namen der Ehre aufmerksam zu machen. Es ist eine richtige Bewegung entstanden. Natürlich gibt es auch Kritik. Manche beschuldigen mich, eine westliche Agentin zu sein, aber viele Menschen unterstützen die Bewegung.
Was hat sich seitdem verändert?
In den neunziger Jahren wusste kaum jemand, dass solche Dinge bei uns passieren. Heute ist die Haltung der Gesellschaft eine andere. Das sehe ich an den vielen Kommentaren im Internet, die sich gegen Gewalt im Namen der Ehre aussprechen und harte Strafen für die Täter fordern. Nach zahlreichen Medienberichten musste auch die Regierung zugeben, dass wir ein Problem haben. Vorher beharrten die Behörden darauf, dass es sich um Einzelfälle handele.
Von welcher Grössenordnung reden wir hier?
Es gibt heute pro Jahr etwa 20 bis 30 Fälle in Jordanien. Zu Beginn meiner Arbeit als Journalistin hatten wir es noch mit 30 bis 50 Fällen pro Jahr zu tun. Es ist heute nicht mehr möglich, solche Fälle zu kaschieren, deshalb gehe ich davon aus, dass die Zahl der Morde aus Gründen der Familienehre tatsächlich zurückgegangen ist.
Wie sieht die Strafverfolgung heute aus?
Wenn eine Familie heute den Behörden erklärt, ihre Tochter sei versehentlich vom Bruder überfahren worden, dann nimmt ihr das niemand mehr ab. Jede Frau, die unter unklaren Umständen verletzt wird oder zu Tode kommt, wird genau untersucht. Es gab mehrere Fälle, bei denen die Ärzte und Forensiker Verbrechen auf die Spur gekommen sind, die die Familien als Unfälle tarnen wollten. Jeder Fall kommt vor einen Richter, der ihn genau prüft, unabhängig davon, ob eine Frau etwas getan haben soll, das unseren sozialen Massstäben widerspricht. Das ist sehr wichtig.
Was ist mit der Justiz?
Das Rechtssystem geht heute anders mit diesen Verbrechen um. Gewalt im Namen der Familienehre wird vor Gericht genauso behandelt wie jedes andere Verbrechen auch. Es ist schlimm genug, wenn wir nicht jeden Fall verhindern können. Dann müssen wenigstens die Rechte der Opfer gewahrt bleiben. Das Strafmass ist deutlich höher geworden. Seit Juli 2009 gibt es ein eigenes Strafgericht für diese Fälle. Wer heute in Jordanien aus Gründen der Familienehre mordet, bekommt mindestens siebeneinhalb Jahre bis lebenslänglich, je nach den Umständen.
Frauen in Jordanien leiden unter vielfältigen Formen von Gewalt. Was geschieht, um sie besser zu schützen?
Es geschieht sehr viel auf unterschiedlichen Ebenen. Nach langem Drängen von Frauenorganisationen wurden 2005 zwei Schutzhäuser eingerichtet, ein staatliches und eines von der Jordanian Women's Union. Ursprünglich waren sie für missbrauchte Kinder bestimmt, aber seit einiger Zeit können dort Frauen Schutz vor Gewalt suchen. Diese Einrichtungen sind sehr hilfreich. Die Polizei richtete landesweit Family Protection Units ein, um Frauen besser zu schützen. Dort finden Frauen Hilfe bei häuslicher Gewalt, oder sie werden an die Frauenhäuser weiterverwiesen.
Polizisten, die sich um Frauen in Not kümmern? Wirklich?
Es mag einzelne Polizisten geben, die immer noch meinen, die Frauen seien selbst an ihrem Unglück schuld. Aber insgesamt haben die Family Protection Units viel Erfahrung gesammelt. Es gibt dort weibliche Polizisten, Psychiater und Forensiker zur Aufnahme von Beweisen, zum Beispiel bei Vergewaltigungen. Die Polizei schickt die Frauen mit Sicherheit nicht einfach zur Familie zurück. Im Gegenteil, sie bemüht sich, Lösungen zu finden oder rechtliche Schritte gegen die Täter einzuleiten. Die JWU hat ausserdem eine Hotline für Frauen in Not eingerichtet. Die Sozialarbeiterinnen der Women's Union verfolgen jeden Fall. Sie machen auch Hausbesuche, wenn eine Frau zum Beispiel Angst hat, das Haus zu verlassen. Neu ist eine Einrichtung für die Opfer von Menschenhandel und Prostitution. Auch das ist ein grosses Thema.
Warum bringen Männer ihnen Nahestehende um?
Für mich sind einige dieser Männer auch Opfer. Niemand will zunächst eine Verwandte umbringen, mit der zusammen man aufgewachsen ist. Oft ist es die Umgebung, die den Täter drängt. Aus einem normalen Menschen wird dann ein Mörder. Die Vorstellung, dass Frauen durch ihr Verhalten die Ehre der Familie verletzen können, das ist wie eine Lüge, die jemand in die Welt gesetzt und die sich seitdem verselbständigt hat. So haben sich falsche kulturelle Massstäbe gebildet. Familien haben Angst, dass andere auf sie herabschauen oder dass sie zu Aussenseitern werden. Häufig werden dann Minderjährige dazu gedrängt, die Tat auszuführen, weil sie vor Gericht eher straffrei ausgehen.
Haben Sie auch Täter interviewt?
Ich habe mit zahlreichen Tätern gesprochen. Viele äusserten zwar Bedauern über die Tat. Aber sie sagten, wenn sie nochmals in die gleiche Situation kämen, würden sie es wieder tun. Kultur und Gesellschaft sind stärker als der Einzelne. Ich fragte einen Täter, ob er religiös sei. Als er bejahte, entgegnete ich ihm: "Deine Religion sagt, du sollst nicht töten." Seine Antwort lautete: "Ich weiss, aber die Kultur ist stärker." Wir dürfen weder die Täter noch die Gesellschaft, eine soziale Schicht oder Religion dämonisieren. Wir müssen das Problem lösen, indem wir es direkt angehen. Das ist meine Mission.
Ist es also mehr eine Frage der Kultur als der Religion?
Während meiner zwanzigjährigen Arbeit als Reporterin habe ich auch über vier oder fünf Fälle aus christlichen Familien in Jordanien berichtet, in denen Frauen ermordet wurden. Aber weil in Jordanien 95 Prozent der Menschen Muslime sind, heisst es immer, der Islam sei schuld. Es gibt Fälle von Ehrenmorden unter Christen in Palästina oder Libanon, aber auch auf Sizilien und in Lateinamerika, wo die Menschen überwiegend Katholiken sind. Das Phänomen ist nicht per se an eine Religion gebunden.
Wird es in den nächsten Jahren gelingen, die Lage von Frauen in Jordanien deutlich zu verbessern?
Die Entwicklung ist positiv, obwohl es leider immer noch sogenannte Ehrenmorde und Gewalt gegen Frauen gibt. Beides wird nicht über Nacht verschwinden. Unsere Gesellschaft ist in Bewegung, aber es braucht Zeit. Ich bin immer optimistisch, wenn sich Dinge ändern.