Berlin. Nach dem weitgehenden Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan setzen die Taliban ihren Eroberungszug unbeirrt fort. Am Donnerstag meldeten mehrere Provinzräte, dass nun auch die wichtige Provinzhauptstadt Gasni an die militanten Islamisten gefallen sei. Die Stadt im Zentrum des Landes liegt nur rund 150 Kilometer von der Hauptstadt Kabul entfernt.
Damit haben die Taliban in nicht mal einer Woche die Kontrolle über zehn Provinzhauptstädte übernommen. Der Norden des Landes befindet sich fast vollständig in der Hand der Taliban. Immer mehr Menschen suchen deshalb Schutz in Kabul, wo die Regierungsbehörden Berichten zufolge heillos überfordert sind.
Angesichts der Expansion der Taliban und der sich verschlechternden Sicherheitslage rief die Bundesregierung deutsche Bürger am Donnerstag bereits dazu auf, das Krisenland schnellstmöglich zu verlassen. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) warnte die Islamisten zudem davor, in Afghanistan ein Kalifat zu errichten. Er drohte damit, deutsche Entwicklungshilfezahlungen - derzeit rund 430 Millionen Euro pro Jahr - sonst einzustellen. Dann werde es „keinen Cent" mehr geben, sagte er am Donnerstag im ZDF-"Morgenmagazin".
Die SPD-Bundestagsfraktion stellt sich hinter Maas' Äußerungen. „Für uns war immer klar, dass wir Afghanistan nicht aufgeben werden, auch wenn die Bundeswehr das Land verlässt. Deutschland und die EU haben deshalb erhebliche Hilfszahlungen zugesagt, etwa für die dringend benötigte Entwicklungszusammenarbeit" sagt Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Diese Gelder seien für sie ein entscheidender Hebel, um wichtige Errungenschaften wie Frauenrechte oder den Schulbesuch von Mädchen abzusichern. Weiter sagt Schmid: „Klar ist: sollte eine Regierung unter Beteiligung der Taliban massiv gegen die Grundrechte der fortschrittlichen afghanischen Verfassung verstoßen, muss sie nicht nur damit rechnen, unsere finanzielle Unterstützung zu verlieren, sondern auch zu einem international geächteten Paria zu werden."
Aber nützt eine solche Drohung, um die Taliban abzuschrecken? Die Opposition sieht das anders. Grünen-Außenexperte Omid Nouripour hält sie für wirkungslos. „Wer glaubt, dass die Taliban Angst haben vor einer Einstellung der Entwicklungshilfe, glaubt auch, dass sie Interesse haben an einer Entwicklung des Landes. Das haben sie aber nicht", sagt er dem RND. „Die Dschihadisten wollen das Land zurück in die Steinzeit befördern. Die Drohung von Außenminister Maas zeigt vor allem Hilflosigkeit."
Auch der außenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Bijan Djir-Sarai, glaubt nicht, dass das Aussetzen der Entwicklungshilfe die Taliban abschrecken könnte. „Auch wenn die Taliban auf die Entwicklungshilfe-Zahlungen angewiesen sind, wird sie die Drohung von Außenminister Maas nicht davon abhalten, auch weiterhin mit Gewalt und Terror gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen", sagt er dem RND.
Mit einem Aussetzen der Entwicklungshilfe würden nach Ansicht von Gregor Gysi zudem die Falschen getroffen. „Diese Einstellung träfe kaum die Taliban, sondern in erster Linie die Bevölkerung. Schon deshalb wäre es falsch", sagt der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag dem RND. „Meine Erfahrung mit solcherart Sanktionen besteht nur darin, dass die Gegenseite sturer wird und der Bevölkerung erklärt, dass der Westen die schlechte Lebenssituation verursache."
Endlich sollte begriffen werden, dass es eine militärische Lösung nicht gibt.
Aber wie sollte die Bundesregierung, wie sollte der Westen nun mit dem Konflikt umgehen?
Gysi schlägt vor, den Taliban Hilfsangebote zu unterbreiten und diese an Bedingungen zu knüpfen. „Vor langer Zeit hat die damalige Weltmacht Großbritannien einen Krieg gegen Afghanistan geführt und verloren. Vor nicht allzu langer Zeit hat die Weltmacht Sowjetunion gegen Afghanistan einen Krieg geführt und verloren. Nun hat das stärkste und größte Militärbündnis, die Nato, einen Krieg gegen Afghanistan geführt und verloren. Endlich sollte begriffen werden, dass es eine militärische Lösung nicht gibt", sagt er dem RND.
Man müsse zurückkehren zu Außenpolitik und Diplomatie, führte Gysi weiter aus. Und man könne Hilfsangebote immer auch an Bedingungen knüpfen. Beispielhaft nennt er die DDR, die „hat in Syrien das Berufsschulwesen aufgebaut, unter einer Bedingung, dass Mädchen genauso ausgebildet werden müssen wie Jungen". Das habe funktioniert. „Warum können wir nicht auch gegenüber den Taliban Hilfen anbieten, auf die sie angewiesen sind und diese Angebote an Bedingungen knüpfen?"
Nouripour fordert hingegen ein sichtbares Signal des Dialogs und Vertrauens an die afghanische Regierung. „Die Verhandlungen der Amerikaner mit den Taliban haben letzteren den Glauben zurückgegeben, dass sie militärisch gewinnen können und noch dazu die Autorität der afghanischen Regierung zerstört. Es braucht nun ein sichtbares Signal des Dialogs und Vertrauens an die Regierung." Die afghanische Führung müsse gefragt werden, wie man am besten helfen könne - idealerweise bei einem offiziellen und öffentlichkeitswirksamen Treffen.
Ob es gelinge, das Vertrauen wiederherzustellen, wisse er nicht. „Aber alles andere wäre der Weg in den flächendeckenden Bürgerkrieg." Zugleich sei klar, dass eine militärische Option vom Tisch ist. Doch das Gespräch sollte gesucht werden, fordert er.
Nouripour glaubt zudem, dass eine vollständige Machtübernahme der Taliban noch verhindert werden kann. „Die größte Rolle spielt dabei die Psychologie. Aber wenn der Glaube weg ist, dass die afghanische Regierung noch etwas ausrichten kann, dann fallen die Städte wie Kartenhäuser."
Djir-Sarai fordert die Bundesregierung indes dazu auf, die Verhandlungen mit den Taliban abzubrechen und stattdessen den Druck auf Pakistan zu erhöhen. Die dramatischen Entwicklungen der vergangenen Wochen hätten deutlich gezeigt, dass ein konstruktiver Dialog und Verhandlungen mit den Taliban unmöglich seien. „Die afghanische Regierung braucht dringend Luftunterstützung und Spezialkräfte zur Verteidigung der Städte. Über diese Fähigkeiten verfügt nur die USA", sagte er.
Eine vollständige Machtübernahme der Taliban zu verhindern, hält er noch für möglich. „Dazu müssten die Taliban aber durch die militärischen Fähigkeiten der USA unter Druck gesetzt werden."
Zudem fordert er eine Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. „Dass die Bundesregierung die vergangenen 20 Jahre verschlafen hat, gemeinsam mit den Nato-Partnern eine Exit-Strategie zu erarbeiten, um die aktuelle Situation zu verhindern, darf nicht bedeuten, dass die Afghaninnen und Afghanen nun ihrem Schicksal überlassen werden."
Anders als Nouripour und Djir-Sarai denkt Gysi nicht, dass sich die vollständige Machtübernahme durch die Taliban noch verhindern ließe. „Allerdings weiß ich noch nicht, wie die Kämpfe um Kabul ausgehen werden. Die Bevölkerung hat sich ja auch verändert und ist nicht so ohne Weiteres bereit, die Art und Weise der Machtausübung der Taliban zu akzeptieren. Das Wichtigste wäre aber, Pakistan entschieden anzumahnen, die Waffenlieferungen an die Taliban einzustellen", sagt er.
SPD unterstützt Friedensverhandlungen
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt unterdessen weiter die Friedensverhandlungen zwischen Taliban und afghanischer Regierung. Schmid sagt: „Nachhaltigen Frieden wird es in Afghanistan nur durch eine politisch ausgehandelte Lösung geben können. Deshalb unterstützen wir weiterhin den inklusiven Friedensprozess in Doha."
Weiter sagt der SPD-Mann: „Für uns war immer klar, dass ein Engagement der Bundeswehr am Hindukusch nur dann sinnvoll und möglich ist, solange auch die USA mit ihren Bodentruppen vor Ort sind. Mit der Ankündigung des US-Abzugs war deshalb nicht nur das Ende des Bundeswehreinsatzes besiegelt, sondern zugleich aller anderer Verbündeter."
Dass Afghanistan letztlich vollkommen in die Hände der Taliban fällt, hält Schmid denn auch keineswegs für sicher. „Es ist erschreckend mitanzusehen, wie schnell die Taliban einen Bezirk nach dem anderen erobern. Das rasche Vorgehen bedeutet jedoch nicht, dass sie das ganze Land unter ihre Kontrolle bringen werden", sagt er. „Ein strategischer Fehler war, dass der frühere US-Präsident Donald Trump Verhandlungen mit den Taliban führte, ohne dabei die afghanische Regierung miteinzubeziehen. Damit hat Trump einen entscheidenden Hebel aus der Hand gegeben."
CDU-Außenexperte Norbert Röttgen hatte im Deutschlandfunk zudem gefordert, den Taliban etwas entgegenzusetzen. Er hält es für dringend nötig, dass Deutschland über das Thema mit den USA spricht und dabei auch eigene Fähigkeiten anbietet - etwa in Form von Logistik. Er verwies darauf, dass das US-Militär von Katar aus weiterhin Luftangriffe gegen die Taliban fliege.
Zugleich stellte Röttgen klar, keine Revision des Truppenabzugs zu wollen. Nur sei im Falle von Nichtstun ein Bürgerkrieg mit Millionen Flüchtlingen die Folge. Die Taliban müssten zu einer politischen Lösung gedrängt werden, damit nicht alles in 20 Jahren Erreichte gefährdet und Afghanistan erneut zu einem „Nest für Terroristen" werde.
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