St. Pauli wandelt sich tief greifend. Eine Reise von den Bühnen bis in die Unterwelt.
Hamburg. Genau hier wurde er zum König von St. Pauli, sagt Werner. Club 88, benannt nach der Hausnummer auf der Reeperbahn. Eine schlauchförmige Disco, schwirrende Hostessen, überall Brüste und Paillettenkleider, Bassgewummer, Luden, auch er, Werner, mit Cowboystiefeln an den Füßen und dem Cadillac vor der Tür. „Hab einfach getanzt“, sagt er, „und alle haben nur zugeguckt“. Werner der „Ficker“ hätten sie ihn auf dem Kiez genannt. „So war das, ne.“ Er deutet einen Tanz an, der Hüftschwung stockt.
So war das mal. In den späten 70ern. Als er noch selbst zwei Läden hatte, immer vier Frauen an der Hand, die ihn geliebt hätten; er sie weniger. Als die Dinge noch einfach waren, der Unternehmer Willi Bartels alle Immobilien auf dem Kiez hatte und die Luden wie Werner das Sagen. Er trägt längst graue Haare, grauen Pulli, Wollmütze, fleckige Laufschuhe; von seinem einstigen Ruf ist er weit entfernt: ein Ficker a. D., wenn man denn so will. Aber Werner ist noch hier und nicht – wie die allermeisten anderen Könige von früher – tot oder Schlimmeres: Der „Schöne Klaus“ zum Beispiel, noch so eine alte Kiezgröße, liegt morgens schon mit den langen Haaren in Pfützen herum oder dirigiert den Verkehr, ohne dass Autos da wären. Werners Augen sind jung geblieben. „Ich weiß schon noch, was abgeht, ne.“
18 Uhr, St. Paulis Kiez. Knapp 900 Meter Straße, 10 Sexshops, 26 Diskotheken, 57 Kioske, 40 Bordelle, 20 Millionen Besucher im Jahr. Im 20. Stock des Empire Riverside werden die ersten Manhattan-Cocktails des Abends gemixt, im Goldenen Handschuh fließt schon wieder der Fanta-Korn. Rentnergruppen ziehen mit geröteten Wangen und Fremdenführer durch Sexshops. Ein Mittzwanziger verschwindet hinter einer Tür ohne Klingelschild, sein Bentley verschließt sich auf Knopfdruck.
Wer hier Einfluss hat, kann reich werden, sehr reich. Und steuert zugleich eine Traummaschine. Es sind immer nur ein paar Geldscheine, ein paar Getränke, dann kann jeder alles sein. Herrin der Nacht, Tänzer, Liebhaber einer Göttin, Entdecker, Ganove, Held, Gebrochener, alles auf einmal oder kurz hintereinander. Der Kiez ist noch immer das größte Versprechen dieser Stadt, ein routinierter Menschenfänger. Manche spuckt er im Morgenlicht berauscht wieder aus, manche erst nach Jahrzehnten oder nie.
Werner macht jetzt Rundgänge, will zeigen, wie der Hase heutzutage läuft, wer das Sagen hat. „Im Grunde gibt es nur zwei Typen: die Soliden, die sich schön ans Gesetz halten, und das Milieu.“ Aber die Grenzen sind fließend wie noch nie. Wer sich auf die Suche danach macht, wem der Kiez gehört, trifft auf eine neue Art von Königen, einen Kampf zwischen Kultur und Kiosk, tritt eine Reise von den Bühnen bis in die Unterwelt an; auf einer weltberühmten Meile, die gleichzeitig stirbt und neu entsteht.
Schmidt-Theater - Die Littmanisierung von St. Pauli
Über die LED-Fassade des Klubhauses schwappt eine Welle, ein Hauch von Broadway. Werner zeigt auf den Eingang des Schmidt-Theaters daneben. „Die Kunst auf dem Kiez ist, ein Fuchs zu sein und alle zu überleben. Corny ist einer. Vielleicht der Größte von allen.“
Disco-Licht an, Anlage laut, die Frau auf der Bühne schmettert drei Zeilen auf Schlager-Beats. Dann reicht es Corny Littmann: „Ist gut jetzt, Schluss mit Soundcheck.“ Noch eine Stunde bis zur Show „Cindy Reller“, im Saal des Schmidt-Theaters wuseln sie. Littmann raucht eine Lucky Strike ohne Zusätze und will eigentlich nicht über Macht sprechen. „Blödsinn, mit dem Begriff kann ich nichts anfangen“, brummt er dann. Die Frau hat wie vom Donner getroffen zu singen aufgehört.
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(Abendblatt plus)