Ihab Ayed wurde in Courbevoie bei Paris geboren. In einem Krankenhaus 400 Meter Luftlinie von der nächsten Eishalle entfernt und knapp 2000 Kilometer von der Stadt Chebba in Tunesien, wo sein Vater zur Welt kam. So wurde aus Ayed mit vier Jahren ein Schlittschuhläufer, mit fünf ein Eishockeyspieler und jeden Sommer ein „Chez-Nous".
„Chez-Nous" - so nennt man in Tunesien diejenigen, die in Europa leben, jeden Sommer in schicker Kleidung zurückkommen und in den Ferien nicht müde werden, ihren Verwandten vom Leben „chez nous à Paris" zu erzählen. Sie haben seltsame Sachen im Koffer und kuriose Ideen im Kopf.
Auch Ayed hat die Sommer seiner Kindheit in Tunesien verbracht, nun ist er 36 Jahre alt und war zum ersten Mal auch im Winter dort. Im Koffer eine schwarze Hartgummischeibe und im Kopf eine Idee, die ihn seit Jahren nicht mehr loslässt: Er will den Tunesiern Eishockey beibringen. Dafür hat er vor einem Jahr seinen gutbezahlten Job als SAP-Berater in Paris gekündigt und ist in das Haus der Familie nach Chebba gezogen.
Manchmal nimmt Ayed die schwarze Hartgummischeibe und sagt zu jemandem auf der Straße: „Ich geb dir 20 Dinar, wenn du weißt, was das ist!" Bisher musste er nicht zahlen. Aber Ayed ist überzeugt, dass er das ändern kann. „Als Kind habe ich mich immer gefragt: Wieso kann ich im Sommer nicht Eishockey spielen?"
1994 dann kam ein Film in die Kinos, der aus dem Kindertraum einen Lebenstraum machte: „Cool Runnings". Ayed, damals Teenager, saß im Kino und sah, wie auf der Leinwand eine Gruppe jamaikanischer Läufer beschloss, als Bob-Mannschaft bei den Olympischen sSpielen anzutreten. Jamaika: Temperaturen um 33 Grad, kein Eis. Tunesien: 32 Grad, kein Eis. Die hatten wohl ein ähnliches Problem wie ich, dachte sich Ayed.
„Wieso sollte ich es nicht auch schaffen?" Wie bei den Jamaikanern sind Ayeds Ziel die Olympischen Spiele. Aber einen Unterschied gibt es: Während der Anschieber beim Bobfahren vor allem ein guter Läufer sein muss und es an guten Läufern auf Jamaika nicht mangelt, muss ein guter Eishockeyspieler zuallererst Schlittschuh laufen können. Es war und ist ein Dilemma: Um Kindern Eishockey beizubringen, braucht er eine Eishalle. Um Sponsoren für eine Eishalle zu finden, muss Eishockey populärer werden. Damit Eishockey populärer werden kann, braucht er eine erfolgreiche Nationalmannschaft. Dafür wiederum braucht er tunesische Spieler. Und dafür eigentlich tunesische Kinder, die sich für Eishockey interessierten.
Bis heute gibt es in Tunesien keinen Eishockeyklub, keinen Ort, an dem man trainieren könnte. Und doch hat die Nationalmannschaft mittlerweile 45 Spieler. Vor etwa zehn Jahren erhielt Ayed eine Facebook-Nachricht von einem Algerier. Er stellte sich als Präsident der algerischen Eishockey-Nationalmannschaft vor und fragte ihn, ob er auch Algerier sei. Er hatte ihn im Internet in einer Mannschaftsaufstellung entdeckt und gehofft, ihn für das algerische Team zu gewinnen. Von dem Tag an wusste Ayed, wie er vorgehen musste. Er begann, nach Eishockeyspielern zu suchen, deren Namen andeuteten, dass mindestens ein Elternteil aus Tunesien stammt. Jahrelang sah er sich Eishockey-Übertragungen aus aller Welt an, las Spielberichte, durchforstete Spielerlisten bis in die untersten Ligen und die hintersten Winkel der Welt.
Einer der hintersten Winkel - von Tunesien aus betrachtet - ist zum Beispiel Bayern. Dort, in der Kleinstadt Regen, sitzt an einem Sonntag im Januar 2016 Scander Menasri in der Kabine und bindet seine Schlittschuhe. Es riecht nach Schweiß und Kampfer, die Luft ist stickig und der Ton rauh. Herzlich rauh: „Das musst du als Niederbayer grad sagen!" - „Ach, Scander, du kommst doch auch nicht aus der Oberpfalz." - „Ja, doch." - „Ich dachte, aus Afrika. . .?" „Klar, Kameltreiber aus Afrika." - „Jedenfalls bist du mein Lieblingsausländer!" Dass er „aus Afrika" kommt, wissen die Mitspieler eigentlich nur wegen seines Namens. Denn Menasri hat die grau-blauen Augen und die blonden Haare seiner Mutter. Von seinem tunesischen Vater hat er das Temperament. Nämlich, dass es ihn „innerlich zerreißt", wenn auf dem Eis etwas nicht so läuft, wie er es will. Und dass er deswegen hart trainiert und noch härter spielt.
Menasri hat in der Bayern-Liga und in der U-16-Bundesliga gespielt. Er wollte unbedingt Profi werden, aber daraus wurde nichts. Heute, mit 33, ist er Bauleiter einer Estrich-Firma. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, das Eishockeyspielen mit 32 aufzugeben, und der zweite Kreuzbandriss im vorigen Jahr wäre ein guter Zeitpunkt gewesen. Aber einmal noch will er versuchen, in Form zu kommen. Für die tunesische Nationalmannschaft.
Wenigstens einmal will er gegen eine andere Nation antreten. 2010 hatte ihn Ihab Ayed entdeckt und über Facebook angeschrieben. Menasris Vater meldete sich: „Mein Sohn wäre stolz, ein Teil der tunesischen Nationalmannschaft zu sein. Aber er spricht kein Französisch und kein Arabisch." Ob das ein Problem sei?
Von seinem tunesischen Vater hat Menasri zwar Liebe zum Eishockey gelernt, nicht aber Arabisch. „Des hob i versemmlt", sagt der Vater, der einen so breiten Oberpfälzer Dialekt spricht, dass man ihn nur schwer als Tunesier erkennt. Über zwei Drittel seines Lebens hat er in Deutschland verbracht und ist dabei ein Deutscher geworden. Nachdem der Vater 1970 als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen war, fand er schnell Freunde im Fußballverein. Sie nahmen ihn mit, wenn sie sich ein Eishockeyspiel ansahen. Die Stimmung, die Geschwindigkeit und Härte - das gefiel ihm, und er kam wieder. Später nahm er seinen Sohn mit. Und als der selbst aufs Eis ging, fuhren seine Eltern zu allen Spielen. „Das Eishockey ist unsere zweite Heimat geworden", sagt der Vater.
Vielen anderen Spielern der Nationalmannschaft geht es ähnlich. Keiner ist in Tunesien geboren, sondern in Kanada, Frankreich, Belgien, Schweden, England oder Finnland. Tunesien ist das Land der Eltern. Ihre Kinder haben es nur selten betreten, manche nie, und Arabisch sprechen nur die wenigsten. 2013 hatte Ayed schließlich genug Spieler zusammen. Im Juni 2014 trafen sie sich zum ersten Training in Frankreich - und zwei Tage später zum ersten Spiel. Gegen Ayeds Heimatverein, den „Coqs de Courbevoie". Menasri war nervös. Was, wenn die anderen untereinander doch Arabisch sprachen?
Sein Vater hatte vor der Abfahrt zu ihm gesagt: „Wenn du sie nicht verstehst, spielst du Eishockey. Das ist überall gleich." Und so war es: In der Kabine roch es nach Schweiß, die Luft war stickig und der Ton herzlich rauh. Die Spieler sprachen englisch, manchmal französisch und verstanden sich auf Anhieb. Dann ging es aufs Eis. Menasri schoss das erste Tor in der Geschichte der Mannschaft, bald führten die Tunesier 4:1, dann trumpften die Franzosen auf. Am Ende stand es 5:6, aber das betrübte niemanden. „Das ist schon stark, wenn du den Adler von Karthago auf der Brust hast und auf dem Eis die Nationalhymne hörst", so Menasri. Ayed sagt, er habe mit den Tränen gekämpft.
Er selbst hat nicht mitgespielt. Im grau-blauen Anzug stand er im Stadion und begrüßte vor 500 Zuschauern den tunesischen Botschafter, der das Trikot der Mannschaft trug. Vor dem Spiel hatte ihn der tunesische Sportminister angerufen: „Toller Job, ihr könnt alles haben, was ihr braucht!" Später hatte er beim großen internationalen, französischsprachigen Fernsehsender TV5 im Studio von seinem Traum gesprochen, der ein Stück weit wahr geworden war. Zugeschaltet war aus Zürich René Fasel, der Präsident der Internationalen Eishockey-Föderation IIHF. Die Welt wusste nun, dass es diese Mannschaft gab.
Und doch sah es im Winter 2015/16 wieder so aus, als sei alles bloß ein Traum gewesen. Auf Ayeds Visitenkarte steht zwar „Präsident der Tunesischen Eishockey Vereinigung", die Büroadresse darunter aber ist fiktiv. Der Sportminister ist zwei Monate später zurückgetreten, ohne etwas für die Mannschaft getan zu haben. Sponsoren, die in Tunesien eine Eishalle bauen wollten, sind nach dem Terrorangriff in Sousse abgesprungen. „Ich habe das Gefühl, etwas für mein Land getan zu haben. Und mein Land sieht das nicht", sagt Ayed.
Eine tunesische Mannschaft könne dem Land zu anderen Nachrichten verhelfen, glaubt er. Tunesien nicht als das Land, in dem man früher an den Strand gefahren ist und in dem nun Menschen erschossen werden. Sondern Tunesien als Sportnation. „Die Tunesier denken, weil es hier keinen Schnee gibt, kann das nicht funktionieren", sagt Ayed: „Aber gerade das, macht es doch interessant." Das Exotische. „Bei den Olympischen Winterspielen tritt kein tunesischer Athlet an. Das ist doch beschämend!"
Deswegen ist er im vergangenen Winter nach Chebba gezogen. Er muss Lobbyarbeit leisten. Immer wieder erzählen, was er tut und warum. Alles hat Ayed auf sein Ziel ausgerichtet. Das Logo der tunesischen Eishockey-Vereinigung prangt auf der Wanduhr und dem Auto seiner Eltern. Ayed ist jetzt oft im Fernsehen zu sehen, Zeitungen überall auf der Welt berichten über ihn. Er hat Starspieler Ramzi Abid, der früher in der nordamerikanischen Profiliga NHL und in der Deutschen Eishockey Liga bei den Grizzly Adams Wolfsburg gespielt hat, für die Mannschaft gewinnen können. Andere tunesische Spieler melden sich nun ganz von allein.
Ob sich der Traum von den Olympischen Winterspielen wie bei den Bobfahrern aus Jamaika erfüllen kann? Sicher nicht sobald. Aber nun im Sommer wird Menasri sein Ziel erreichen und Ayed seinem Ziel ein großes Stück näher kommen: Vom 24. bis zum 30. Juli tritt das Team bei der ersten Afrika-Meisterschaft in Marokko an. Im ersten Spiel gegen Ägypten gewann Tunesien mit 20:0, Algerien und Marokko warten in den kommenden Tagen als Gegner. Am Freitag hat Ayed auf seiner Facebookseite die tunesische Nationalhymne gepostet. „2014 erklang sie zum ersten Mal in der Geschichte auf einer Eisbahn", schrieb er dazu. Nun erklingt sie zum ersten Mal für Eishockeyspieler auf dem afrikanischen Kontinent.