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Feature

Den Pinselohren auf der Spur

Außerhalb des Naturschutzradars kaum bemerkt, streifen seit Jahren wieder wild lebende Luchse durch deutsche Wälder. Die einen freuen sich - andere schießen auf sie.

Christina M. Bauer


Lam ist ein kleiner Ort in Nordostbayern. Sybille Wölfl, eine große, sportliche Frau, hat einen besonderen Grund, dort zu leben. Zusammen mit ihrem Mann Manfred betreut sie Naturschutzprojekte. Das brachte den beiden recht originelle „Haustiere“ ein: wild lebende Luchse, um deren Wohl sich Wölfl im bayerischen Luchsprojekt kümmert. Es ist Anfang März, auf dem schmalen Waldweg schimmern noch breite Schneeflecken in der Sonne, als die Biologin ihre nächstgelegene Fotofalle überprüft. Davon stehen insgesamt 45 auf 2000 km² verteilt, vor allem im Naturpark und dem Nationalpark Bayerischer Wald. Die Weißlichtblitzkameras sind hell genug, um das Fell der Tiere gut auszuleuchten. Anhand des individuellen Fleckenmusters kann Wölfl jedes eindeutig identifizieren. Sie holt die Speicherkarten etwa alle drei Monate, zumindest, wenn nicht gerade mal wieder eine Kamera gestohlen wurde. So behält sie den Überblick, was ihre Schützlinge machen, selbst wenn sie keinem je direkt begegnet. Die Tiere sind dämmerungsaktiv und sehr scheu. „Ein bis zwei Mal im Monat taucht jeder Luchs auf einer der Fotofallen auf“, so Wölfl. „Es ist immer nachvollziehbar, in welchem Gebiet ein Tier unterwegs ist.“ Wenige hundert Meter hinter der Fotofalle endet der Wald. Im Büro des abgelegenen Bauernhauses, wo sie lebt, zeigt die Biologin am Computer aktuelle Bilder. Auch über der Treppe reiht sich eine Auswahl. Meist, so Wölfl, gehe es hier schon morgens beim ersten Kaffee um Neues aus dem Projekt. Ihr Mann, ebenfalls Biologe, arbeitet beim Bayerischen Landesamt für Umwelt im Wildtiermanagement großer Beutegreifer, also von Luchs, Wolf und Bär, wobei derzeit nur die ersten beiden in Deutschland vorkommen, in Bayern nur die ersten.

Zugleich gibt es in der ruhigen Waldregion immer wieder Naturschutzkriminalität. Gerade in den letzten Jahren erwischte es einige von Wölfls Schützlingen. Im Jahr 2012 wurde die besenderte Luchsin Tessa vergiftet, 2013 die trächtige Tara erschossen. Im Mai 2015 tauchten bei einer Fotofalle vier Vorderläufe auf. Per DNA-Analyse ordnete das Berliner Leibniz Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) zwei dem Kuder Leo zu. Das andere Jungtier war wahrscheinlich Luchsin Leonie. Das würde erklären, warum beide seit Monaten von den Fotofallen verschwunden waren. Sie lebten erst seit Kurzem in Wölfls Nähe. „In diesem Territorium war Leo seit 2009 schon der dritte Kuder, der sich angesiedelt hatte und dann auf einmal verschwand“, berichtet die Biologin. Insgesamt waren ihr zufolge in den letzten Jahren 13 Luchse plötzlich weg. Womöglich wurden also mehr als vier getötet. Dabei sind sie streng geschützt. Deutschland ist dazu auf EU-Ebene durch die Flora-Fauna-Habitat-(FFH)-Richtlinie verpflichtet. Die nationale Rote Liste gefährdeter Tiere führt die Art zudem als stark gefährdet. Für die Begleitung ihrer Wiederansiedlung gibt es seit einigen Jahren nationale Leitlinien, in den Bundesländern entsprechende Managementpläne. Wer vorsätzlich einen Luchs tötet, macht sich strafbar. Der Verstoß gegen das Naturschutzgesetz kann zu Geldbußen von bis zu €50.000 sowie Haftstrafen führen, Tierschutz- und Jagdgesetz sind ebenfalls betroffen. Bisher aber werden die meisten Fälle nie geklärt.

Der Eurasische Luchs, Lynx lynx, wurde bis Mitte des 19. Jahrhunderts in West- und Mitteleuropa ausgerottet, vor allem wegen der Weideviehhaltung. Im übrigen Europa erging es der Art etwas besser. Auch heute leben von geschätzt 8.000 Tieren die meisten in Skandinavien, dem Baltikum und den Karpaten. Andernorts wurden sie neu ausgewildert, etwa in den 1970ern im Bayerischen Wald und in den 1980ern im Böhmerwald. Parallel zur Ausbreitung entstand Anfang der 1990er das bayerische Luchsprojekt, an dem inzwischen Umweltministerium, National- und Naturpark sowie mehrere Natur- und Tierschutzorganisationen mitwirken. Luchsforscherin Wölfl meint, es könnte längst weiter fortgeschritten sein, gäbe es keine Tötungen. Im Grenzgebiet von Bayern, Tschechien und Nordösterreich leben derzeit 60-80 Luchse in einer Waldregion von 6.500 km². Das zeigte jüngst eine Fotofallenerfassung im TransLynx-Projekt. Zur primär im Bayerischen Wald ansässigen Population zählt Wölfl etwa 15 ausgewachsene und fünf Jungtiere. Ihr zufolge könnten dort leicht doppelt so viele leben. Wie der Fall mit den Pfoten zeigt, ist es schwer, die rabiaten Gegner zu finden. Keine aussagekräftigen Geschossreste, keine menschliche DNA, Waldboden, der leicht Spuren verwischt – das gibt nicht viel her, sagt der zuständige Regensburger Oberstaatsanwalt Theo Ziegler. „Die Spurenlage, wenn eine Person aus einem bestimmten Abstand auf ein Tier schießt, und dann verschwindet, ist schwierig. Da gibt es wenig Ermittlungsansätze.“ Ohne weiterführende Hinweise werde die Aufklärung schwer. Das Bayerische Umweltministerium setzte im September 2015 gar eine Belohnung von €10.000 aus, was aber nichts änderte. „Möglicherweise gibt es auch deshalb keine Hinweise aus der Bevölkerung, weil potentielle Zeugen massive Probleme in ihrem sozialen Umfeld befürchten“, so Ziegler. Die Ermittlungen sollten noch bis Mai 2016 laufen. Auch in der Schweiz und Österreich gab es schon Luchstötungen, nur in einem Fall führten Hinweise zu einem Verfahren, letztlich zu einer mäßigen Geldstrafe. In Deutschland kam indes Ende 2015 ein neuer Fall hinzu. Ein tot gefundener Jungluchs starb in einer Drahtschlinge, möglicherweise einer illegalen Falle, die Ermittlungen laufen. Dieses Mal setzte der WWF €25.000 Belohnung aus. Ob das etwas ändert, ist fraglich. Immer öfter wird die Einrichtung einer polizeilichen Spezialeinheit Naturschutzkriminalität gefordert, wie es sie in den USA, Italien und Österreich gibt.

35 km südlich von Lam, im Nationalparkzentrum Falkenstein bei Lindberg, richten sich Kameras auf Luchse. Im Gegensatz zu den kompakten Fotofallen sind es solche vom Tierfotografenkaliber, die gern im Rollwagen transportiert werden. Die beiden pinselohrigen Gehegebewohner schielen von Weitem ab und an zur Aussichtsplattform. Ein Kleintransporter rollt heran, wenig später hüpft ein Jungluchs ins Gehege. Er ist der dritte Bewohner dort und musste sich an diesem Tag einige tierärztliche Untersuchungen gefallen lassen. Auf halber Strecke bleibt er stehen und äugt über die Schulter, um zu sehen, ob die Luft nun rein ist. Wenn man sich das Tierchen so anschaut, ist schwer vorstellbar, dass es jemand eliminieren möchte. Nun gut, Tierchen ist ein wenig untertrieben. Eine etwa 20 Kilo schwere, große Katze mit schwarz-geflecktem, gelbbraunen Fell. Charakteristisch: Die Haarpinsel an den Ohren. Wie Ranger zu erzählen wissen, bekommen die Gehegeluchse in der Ranzzeit im Februar und März ab und zu Besuch von wild lebenden Verwandten. Eine Vermischung gibt es angesichts des meterhohen Zauns nicht. Wilde Eurasische Luchse fangen vor allem Rehe, anders als die kleineren amerikanischen Rotluchse, kanadischen Luchse und die sehr seltenen iberischen oder Pardelluchse. Sie alle fressen vor allem Hasen und Kaninchen. Der Eurasische Luchs fängt dagegen Beutetiere bis zum Dreifachen seines Gewichts. Im Vergleich müsste der deutsche Durchschnittsmann also eine Mahlzeit von 270 Kilo erlegen. Die Jagd besteht aus Anschleichen und Überraschungsattacke. Klappt das nicht: gut für das Reh. Der pinselohrige Lauer- oder Ansitzjäger verfolgt es nicht, anders als Hetzjäger wie Wölfe. Ein Luchs vertilgt ein Reh in fünf Tagen, frisst also etwa 70 im Jahr.

Vorbehalte und Gerüchte können schon mal mehr daraus machen. Jagen Luchse das ganze Wild weg und die Jäger haben das Nachsehen? Oder vergreifen sie sich an Schafweiden? Da freuen sich womöglich nur Förster, dass es weniger Wildverbiss an Jungbäumen gibt. Denn ein kleiner Rehbestand sichert die Waldverjüngung. Daher sind es regelmäßige Forstgutachten, die wesentlich die Abschussquoten festlegen. Nun könnte man sagen, Jäger übernehmen damit in etwa die Funktion, die im Ökosystem einst Große Beutegreifer hatten. Wegen der Nähe zu Wald, Waffen und Munition kursieren denn auch vielerorts Vermutungen, möglicherweise töteten einzelne Jäger Luchse. Sie könnten sie als Jagdkonkurrenz sehen, oder gar als Trophäe. „Ausschließen können wir das nicht, aber es ist das letzte, was wir wollen“, stellt Agraringenieur Eric Imm, Geschäftsführer der Wildlandstiftung des Bayerischen Jagdverbandes (BJV), fest. Die Organisation, selbst seit Langem am Luchsprojekt beteiligt, verurteilte die Tötungen scharf. In Gebieten mit geringer Rehwilddichte, so Imm, könne es schon mal eine „gefühlte Konkurrenz“ von Jägern gegenüber Luchsen geben. Auf der anderen Seite kenne er Jäger, die begeistert über Luchsbeobachtungen in ihrem Revier berichteten. Eine Lösungsrichtung könnte sich im Nationalpark Bayerischer Wald andeuten. Dort jagen in weiten Gebieten seit einigen Jahren nur noch Luchse, nicht aber Jäger. Die Waldverjüngung klappt dennoch. Das, so Imm, könnte auch in manch anderen Regionen sinnvoll sein. Jäger, die einen Luchsriss im Revier melden, bekommen außerdem schon seit Längerem eine Meldeprämie in Höhe des Wildbretwerts. Dass sie auf einmal angesichts von Heerscharen gefräßiger Pinselohren nichts mehr zu tun hätten, ist Imm zufolge abwegig. Meist seien die Verlustgründe andere. „In Gebieten mit hoher Rehwilddichte ist die Situation völlig anders. Da erwischt es weit mehr Rehe im Straßenverkehr, als ein Luchs jemals fressen könnte.“ Tatsächlich sterben laut Wildunfallstatistik 2013/14 des Deutschen Jagdverbands jährlich über 193.000 Rehe auf der Straße.

Dort finden die Raubkatzen oft genug selbst ein verfrühtes Ende, wie Ole Anders, Leiter des niedersächsischen Luchsprojekts im Harz, berichtet. „Eine der wichtigsten Gefahrenquellen ist der Straßenverkehr. Hier in unserer Region ist das neben der Räude die Haupttodesursache für Luchse.“ Das unterstreicht nicht zuletzt die Bedeutung grüner Wanderkorridore, wie sie auch für die kleineren Verwandten der Luchse, die Europäischen Wildkatzen, unverzichtbar sind. Im April 2016 wurde indes im Harz erstmals eine Luchstötung bekannt, ein trächtiges Weibchen wurde erschossen. Auch hier kursieren Vermutungen, der Wilderer könnte bei den Jägern zu finden sein. Von denen sind Anders zufolge aber zumindest die meisten den Luchsen gegenüber wohlgesonnen. Er ist selbst Jäger und Förster, betreut im Nationalpark Harz und der Umgebung den derzeit zweiten Luchsbestand des Landes. Seit 2000 wurden 24 Tiere ausgewildert, seit 2002 gibt es jährlich Nachwuchs. Zuletzt erfassten Fotofallen etwa 28 Luchse. Das entspräche auf den ganzen Harz hochgerechnet 84 Tieren. Manche Jäger, etwa aus der Jägerschaft Wernigerode, schätzen die doppelte Zahl. Die wiederum hält Anders für zu hoch. Ein spezieller Konflikt betrifft die Mufflons, seltene Wildschafe, die zuletzt wohl zu oft im Luchsmagen endeten. Ein eigenes Projekt soll nun den Bestandsschwund aufklären. Auf der Weide bedienen sich Luchse aber selten. In den letzten Jahren gab es im Harz jährlich zehn Risse bei Schafen, Ziegen oder Gehegewild, in Bayern einen. Für geschädigte Tierhalter gibt es einen Ausgleichsfonds. Spezialisiert sich ein Luchs auf eine Weide als Buffet, was im Harz bisher zwei Mal vorkam, hilft Nachbessern am Zaun. Höhe allein reicht dabei nicht. „Der wirklich luchssichere Zaun ist noch nicht erfunden worden“, so Luchsexperte Anders. „Dafür sind die Tiere einfach zu gut im Springen und Klettern, als dass sie nicht fast alles überwinden würden, wenn die Motivation groß genug ist. Aber mit elektrischer Ladung wird es unangenehm, das funktioniert.“ Die Reviere im Harz seien nun verteilt, das zeigten die Abwanderungen. Etwa in ein hessisch-niedersächsisches Gebiet, wo seit 2010 eine Population entsteht, oder in den Hilz, mit wachsendem Bestand seit 2013. Einige Abwanderer möchte Anders nun per Besenderung begleiten. Luchse verteilen sich weit, da jeder ein Territorium von etwa 100 km² bewohnt, Männchen leicht 400 km² oder mehr. Von den Revieren der Weibchen passen manchmal mehrere in das eines Männchens. Jungluchse besiedeln ab dem Alter von etwa einem Jahr eigene, meist nahe der Ausgangspopulation. Es gab aber auch schon wolfsartige Abwanderstrecken von 200 km. Bis es mit Revier und Jagd klappt, leben die Jungtiere gefährlich. Geht alles gut, werden sie 15 Jahre oder älter. Bisher kommt die Art außer in Ostbayern und dem Harz nur vereinzelt vor. In Rheinland-Pfalz beginnt das Luchs-Projekt Pfälzerwald Vosges du Nord e.V. dieses Jahr damit, einige Tiere aus der Schweiz und den Karpaten auszuwildern. In Bayern indes haben sich im einstigen Revier von Leo und Leonie wieder zwei Jungluchse angesiedelt. Sibylle Wölfl hofft, dass sie ihre 15 Jahre alt werden können.