Christian Honey

Independent Science Journalist & Translator, Berlin

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Spielsucht: Gewisse Computerspiele machen schneller abhängig

Jugendliche zeigen eine besonders starke Neigung zu exzessivem Spielverhalten. Aber nicht alle Computerspiele machen gleich abhängig, auf drei Faktoren kommt es besonders an.

Erst als Mark* sein Mathematikstudium abbrechen musste, merkte er, dass sein Leben aus dem Ruder gelaufen war. Statt zu Vorlesungen zu gehen oder für seine Prüfungen zu lernen, spielte der 20-Jährige Videospiele am Computer, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. "Es gab Wochen, in denen ich nur schlief, ass und spielte", sagt er. Sieben Jahre ist das her.

Mark ist kein Einzelfall. Eine Metaanalyse mehrerer Studien aus dem Jahr 2017 zeigte, dass je nach Land und Diagnoseverfahren bis zu 27 Prozent der Jugendlichen als abhängig von Computerspielen eingestuft werden können. 1 "Wir schätzen, dass in der Schweiz etwa 10 Prozent der Jugendlichen süchtig nach Videospielen oder suchtgefährdet sind", sagt Franz Eidenbenz, Leiter des Zentrums für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte Radix in Zürich. In der Gesamtbevölkerung seien 2 bis 3 Prozent betroffen.

Im vergangenen Jahr hat die WHO die Computerspielsucht ("gaming disorder") in die neueste Ausgabe des Diagnosehandbuchs ICD-11 aufgenommen. Kennzeichnend für die Krankheit ist demnach anhaltendes oder wiederkehrendes Spielverhalten, bei dem der Spieler die Kontrolle über das Ausmass verliert, andere Interessen und Aktivitäten aufgibt und trotz negativen Konsequenzen für sein Leben weiter und immer mehr spielt.

Bald spielte er durch die Nächte

Bei Mark war das ein schleichender Prozess. Mit 14 kaufte er sich seine erste Spielkonsole. Darauf spielte er vor allem "Pokémon Perl". Mit 16 bekam er einen eigenen PC, darauf vertrieb er sich die Zeit mit "Empire Earth", einem Echtzeit-Strategiespiel aus den neunziger Jahren, in dem Spieler eine eigene Zivilisation durch die Menschheitsgeschichte führen. Dann folgten "Minecraft", "Anno 1404", der Windows-Bahnsimulator und viele mehr. Bald spielte er durch die Nächte, ging erst in den späten Morgenstunden schlafen und schloss sich manchmal für 24 Stunden in seinem Zimmer ein, ohne zu essen oder zu trinken, weil er sich vor seinen WG-Kollegen schämte. Aber er spielte weiter.

"Durch die Aufnahme ins ICD-11 hat die Computerspielsucht den Krankheitswert erhalten, den sie aus Sicht des Klinikers verdient", sagt Eidenbenz. Die Schweizer Regierung arbeitet derzeit ein neues Gesetz aus, das Minderjährige in Zukunft besser vor Gewalt- oder Sexdarstellungen und anderen ungeeigneten Inhalten in Filmen und Videospielen schützen soll. Das Gesetz sieht vor, Altersgrenzen und entsprechende Kontrollen für Videospiele einheitlich zu regeln. Der Fachverband Sucht forderte, bei der Indizierung das spezifische Suchtpotenzial verschiedener Spiele zu berücksichtigen. Aber kann man süchtig machende Spiele wirklich von harmloseren unterscheiden?

Unregelmässige Belohnungen sind riskant

Laut Experten gibt es drei Faktoren, die das Suchtpotenzial besonders steigern. Dazu gehört eine Strategie, um die Spieler möglichst lange an ein Spiel zu binden. Sie wurde erstmals in der Verhaltensforschung der 1950er und 1960er Jahre beschrieben. Damals zeigte der Harvard-Psychologe Burrhus Frederic Skinner, dass Versuchstiere eine Handlung, zum Beispiel das Drücken einer Taste in ihrem Käfig, am häufigsten wiederholen, wenn sie unregelmässig dafür belohnt werden. Fachleute sprechen von einem intermittierenden Verstärkungsplan. "Diese Belohnungsstrategie wird bei den meisten Online-Rollenspielen eingesetzt" erklärt Klaus Wölfling, Leiter der Ambulanz für Spielsucht der Universitätsmedizin Mainz.

Noch höher sei das Suchtpotenzial, wenn Spiele einen Glücksspielcharakter hätten, sagt Wölfling. Das sei zunehmend bei Free-to-play-Spielen der Fall, also solchen, die kostenlos angeboten werden. Dabei ist das Spiel so aufgebaut, dass der Spieler anfangs schnell Erfolge erlebt, irgendwann aber nicht mehr weiterkommt. Dann bekommt er das Angebot, Geld auszugeben, um die Spielhürde mithilfe bestimmter Spielgegenstände, sogenannter Items, zu überwinden. Bei "Pokémon Go" etwa kosten 20 Pokébälle 100 Pokémünzen. Damit können wilde Monster gefangen werden. Die 100 Münzen kosten 99 Cent. Abgerechnet werden derartige Käufe meist mit Mikrotransaktionen über den Handyvertrag oder Paypal. Auf Dauer können so aber Tausende Euro zusammenkommen.

Auch Wetten auf Items können den Glücksspielcharakter eines Spiels verstärken. Beim "skin betting" zum Beispiel können Spieler Items auf die Resultate von Computerspiel-Meisterschaften verwetten. Darüber hinaus können sie in einigen Spielen sogenannte Loot-Boxen erwerben, eine Art Wundertüte für Items. "Damit kauft man sich effektiv ein Glücksspiel-Los", sagt Wölfling. In Belgien fallen Loot-Boxen deshalb heute unter das Glücksspielgesetz.

Bei Online-Videospielen wird das Suchtpotenzial von einer weiteren Quelle gespeist: dem sozialen Feedback der Spieler-Community. Bei Spielen wie "World of Warcraft" oder "League of Legends" können sich die Spielenden über Text- oder Sprach-Chats austauschen und das Spiel-Level der Partner und Gegner verfolgen.

Diese drei Faktoren, intermittierende Verstärkungspläne, Glücksspielcharakter und soziales Feedback, bestimmen demnach das Suchtpotenzial eines Videospiels. Zu diesem Ergebnis kam auch eine Übersichtsarbeit im Jahr 2017. 2 Die Autoren empfehlen, Videospiele wie "World of Warcraft", die derzeit ab einem Alter von 12 Jahren freigegeben sind, anhand eines Katalogs von 14 Kriterien neu zu beurteilen. Etwa solle geprüft werden, ob im Spiel die Unvorhersehbarkeit von Belohnungen zunehme, ob Beinahe-Gewinne vorkämen, die die Belohnungen verzögerten, oder ob es negative Konsequenzen habe, wenn der Spieler eine Pause mache.

Wie die Sucht im Gehirn entsteht

Werden solche Risikofaktoren kombiniert, können sie das Belohnungssystem des Gehirns auf Dauer regelrecht kapern. Das System ist Teil der sogenannten Basalganglien, einer Struktur, die steuert, ob eine von der Hirnrinde geplante Handlung ausgeführt wird oder nicht. Die Entscheidung hängt unter anderem davon ab, ob die Handlung zuvor schon einmal belohnt wurde, etwa wenn ein Spieler eine Herausforderung gemeistert hat. Dann moduliert das Belohnungssystem die synaptischen Verbindungen in den Basalganglien derart, dass sie die Handlung beim nächsten Mal eher zulassen. Besonders stark ist der Effekt bei unerwarteten Belohnungen, was die Macht der intermittierenden Verstärkungspläne beweist.

"Exzessiver Konsum von Videospielen kann das Belohnungssystem so beeinflussen, dass der Spieler beginnt, nur noch im Videospiel nach Belohnungen zu suchen", sagt Wölfling. Das kann Mark bestätigen. Die reale Welt verlor mehr und mehr an Bedeutung in seinem Leben. "In meinem Zugsimulator kannte ich mich aus, da fühlte ich mich wohl, da konnte ich etwas leisten", sagt er. Das verhinderte aber auch, dass er sich Gedanken darüber machte, was er in der realen Welt erreichen könnte. Irgendwann sei es nur noch darum gegangen, durch das Spielen dem schlechten Gewissen auszuweichen.

Zwar schaffte Mark im Jahr 2017 nach mehreren Anläufen den Bachelorabschluss in Mathematik. Als er sich dann aber eine Stelle suchen wollte, schlug die Sucht mit voller Wucht zurück. "Statt mir einen Job zu suchen, sass ich einen ganzen Monat vor dem PC", sagt er. Da wurde ihm klar, dass er allein nicht mehr davon loskam. Er suchte sich Hilfe. Die fand er in einem dreimonatigen Aufenthalt in einer Klinik für Suchterkrankungen. Dort gab es keinen Zugang zu Computerspielen, dafür Sport, Gespräche mit anderen Suchtkranken und Verhaltenstherapie. Erst dieser radikale Schnitt habe etwas gebracht, sagt Mark.

Wirksame Therapie

Die Verhaltenstherapie hat sich bei Internetsucht - dazu gehört neben der Computerspielsucht auch der übermässige Konsum von Social Media oder Pornografie im Netz - schon länger bewährt. Kürzlich bestätigte auch eine Studie, die Wölfling und seine Kollegen im Journal "Jama Psychiatry" veröffentlicht haben, ihren Nutzen. 3 In der randomisierten klinischen Studie untersuchten die Forscher die Wirkung einer 15-wöchigen kognitiven Verhaltenstherapie. Das Ausmass der Sucht und den Therapieerfolg beurteilten sie unter anderem anhand eines bewährten Fragebogens, des Assessment of Internet and Computer Game Addiction Self-Report (Aica-S). Nach der Therapie hatten sich die Aica-Werte in der behandelten Gruppe im Schnitt mehr als halbiert. Bei 50 von 72 Patienten (69,4 Prozent) waren sie sogar unter den Schwellenwert für Suchtverhalten gefallen. In einer Kontrollgruppe ohne Behandlung war das nur bei 17 von 71 Patienten (23,9 Prozent) der Fall.

Das sei eine schöne Bestätigung der Erfahrungen aus der Praxis, sagt Franz Eidenbenz. Oft werde schon nach wenigen Sitzungen eine Verbesserung der Symptomatik erreicht, und bei einfachen Fällen könne nach vier Monaten die Behandlung abgeschlossen werden. Bei entsprechender Motivation seien rund zwei Drittel der Therapien erfolgreich. "Insgesamt sind Verhaltenssüchte aber ähnlich anspruchsvoll in der Behandlung wie stoffgebundene Süchte", fügt der Experte hinzu. Vor allem bei schwierigen Fällen sei die "internet gaming disorder" oft mit anderen Störungen wie Depression, ADHS oder Sozialphobien verknüpft, die mitbehandelt werden müssten.

In Bezug auf die Prävention hält er es für unrealistisch, dass man das Verhalten von Spielern durch Altersbeschränkungen und Kontrollen steuern könne. Die meisten Spielanbieter seien global aktiv und böten ihre Produkte über Internetplattformen an, sagt er. Teenager wüssten, wie sie sich die Spiele besorgen könnten. Für die frühzeitige Sensibilisierung wäre es aber hilfreich, wenn es einen fachlich begründeten Hinweis auf die Suchtrisiken gäbe. Grundsätzlich müsse eine gesellschaftliche Diskussion über Chancen und Risiken von Videospielen breit geführt werden. "Games gehören heute zum Kulturgut", sagt er. Je nachdem wie sie gestaltet seien, hätten sie ja auch ein Lern- und Motivationspotenzial. "Wir sollten nicht computerspielfeindlich sein, sondern die Spiele weiter erforschen, ihr Potenzial nutzen und die Risiken minimieren", sagt Eidenbenz.

Mark hat Computerspiele derweil konsequent aus seinem Leben verbannt. Seinen PC hat er seinem Bruder geschenkt. Zurzeit schliesst er ein Praktikum bei einem Schweizer Bahnunternehmen ab. "Die echte Eisenbahn ist am Ende doch lohnender als der Simulator", sagt er.

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